Starke Filmkunst gefangen in Klischees? – Wie das Cottbusser Filmfestival die Vielfalt ostmitteleuropäischer Filme sichtbar macht

Vom 4. bis 9. November findet es wieder statt: Das Cottbusser Filmfestival für osteuropäischen Film. Seit 35 Jahren wird dort eine breite Palette an Filmen aus unterschiedlichen Ländern und Genres gezeigt und auf die diverse Filmkunst Osteuropas aufmerksam gemacht. Warum es sich lohnt, dabei zu sein und osteuropäischer Film gesehen werden muss, berichtet Hanna Körner.

Szene aus dem Film "Kyrgyz On Mars" von Nurlanbek Kamchybekov

"Welche ost- und ostmitteleuropäischen Filme habt ihr schon gesehen? Also außer 'Drei Haselnüsse für Aschenbrödel'?" Als Bernd Buder, Programmdirektor des Cottbusser Filmfestivals die Frage in die Runde unseres Seminarkurses "Filmkritisches Schreiben" stellt, fühle ich mich ertappt. Französische Filme, spanische Filme, lateinamerikanische Filme, US-amerikanische und koreanische Filme und Serien fallen mir direkt ein, klar! Aber ostmitteleuropäisch?! Ich überlege, aber nein - ich glaube nicht. Dabei grenzt Deutschland direkt an Osteuropa an und hat zum Teil selbst osteuropäische Vergangenheit. Irgendwie unangenehm.  

Osteuropäischer Film – ehh was?!

Bernd Buder durchbricht die etwas stillgewordene Seminar-Runde. Dass uns kaum osteuropäische Filme einfallen, liege auch daran, dass osteuropäischer Film in Deutschland allgemein stark unterrepräsentiert ist. Mit ca. 0,08 Prozent Marktanteil (und das zu guten Zeiten) sind osteuropäische Filme in deutschen Kinos kaum sichtbar. Und wenn, dann wird ein polnischer Film wie "Fucking Bornholm" von Anna Kazejak mit polnischem Cast vom Verleih auch gerne mal als dänischer Film beworben, der auf Bornholm spielt - und das, ohne dass auf dem Plakat hervorgeht, dass es sich um einen polnischen Film handelt. Oder es wird der Name des Regisseurs aufgrund seines polnischen Namens erst gar nicht mit aufs Filmplakat gedruckt. Wieso?

Das liege auch an Klischees, Vorurteilen und dem Image Osteuropas: "durch Kriege und wirtschaftlichen Niedergang und Populismus hat Osteuropa eben das Image einer Krisenregion." Osteuropäischer Film wird laut Buder eher gemieden, da viele Menschen "eben das Stereotyp im Kopf haben, es ist alles düster und dunkel." Das sei zwar auch oft so, aber die alleinige Verbindung von Osteuropa und Krieg und Krisen hinkt, wenn man sich die Filmkunst anschaut, die in Osteuropa ganz besonders entwickelt worden ist.

Programmdirektor & Dozent Bernd Buder, ©Stefan Göbel

Cottbusser Filmfestival für ost- und ostmitteleuropäischen Film

Zum Glück schafft da das Cottbusser Filmfestival, eines der international führenden Festivals für osteuropäischen Film, Abhilfe. Seit 1991 findet das Festival jährlich statt und macht durch eine breite Palette an Filmen auf die Präsenz und Vielfalt des osteuropäischen Kinos aufmerksam. Vom 4. bis einschließlich 9. November findet das Festival dieses Jahr zum 35. Mal statt. Gezeigt werden rund 140 Filme aus 30 Ländern in den Wettbewerben Spielfilm, U18 Jugendfilm und Kurzfilm sowie in sieben weiteren Sektionen.

Die Filmprogramm reicht von Albanien bis ins Baltikum, von der Lausitz bis nach Zentralasien und zeichnet zwischen Art-House und Horrorfilm, Situationskomik, Neo-Noir und Kassenschlagern, investigativer Analyse und schwarzem Humor ein breites Genrekino ab. Besucher:innen erwartet zudem spannende Podiumsgespräche mit renommierten Regisseur:innen sowie internationalen Schauspieler:innen und Produktionsteams.  

Estland im diesjährigen Festival-Spotlight

Nachdem im vergangenen Jahr Armenien genauer unter die Lupe genommen wurde, legt das Festival in diesem Jahr den Fokus auf Estland. Unter dem Titel "Close-Up: Estonia. Zwischen Geschichte und Gegenwart" soll die estnische Kinolandschaft vorgestellt werden.

Die "Close-up"-Sektion soll einen Überblick über die Filmlandschaft des jeweiligen Landes geben und einen Eindruck erzeugen. Welche Filme werden gemacht? Wie ist das Kino stilistisch und inhaltlich aufgestellt? Wie tickt das Land? Wie sehen die Filmemacher die eigene Geschichte ihres Landes und wie betrachten sie ihre Gesellschaft?

Estnisches Kino ist für Bernd Buder auf mehreren Ebenen interessant und ausgesprochen divers: "Es gibt sehr sensible Geschichten, es gibt sehr artifizielles kunstvolles Art-House-Kino, (…) und schwarzen Humor." Dabei habe vor allem die Vielfalt des estnischen Kinos überzeugt.

Neben mythischen Fischerdorf-Erzählungen, kraftvollen Jugenddramen und mediativer Landschaftsbetrachtung überrascht die estnische Filmszene auch mit Fantasy-Erlebnissen wie dem Film "Kratt"von Filmregisseur und Drehbuchautor Rasmus Merivoo. Ein abgedrehter Fabelwahnsinn samt Social-Media-Kritik, bei dem zwei Kinder von den Eltern bei der Oma zurückgelassen werden, um fernab von Smartphones, Videos und Games eine Kindheit wie früher zu erleben. In ihrer Langeweile beschwören die Kinder einen Kobold, einen "Kratt" und gehen einen Pakt mit dem Teufel ein: Sie verkaufen ihm eine Seele – und zwar die der Großmutter. Bei den sogenannten "Kratts" handelt es sich um arbeitswütige Fabelwesen aus der estnischen Mythologie, die aus allerlei Alltagsgegenständen zusammengebaut sind und die im Halbdunkel von Abstellkammern wohnen.

Szene aus dem Film "Kratt" von Rasmus Merivoo

Dabei verhandele estnisches Kino nicht nur wichtige Themen für Estland, sondern auch sehr universelle Geschichten.

Neben der besonderen estnischen Filmkunst, gehört Estland auch zu den Ländern, die durch den russischen Krieg gegen die Ukraine aufgrund seiner geopolitischen Lage besonders in den Fokus des Interesses gerückt ist. Die Situation Estlands schlägt sich auch im estnischen Film nieder, wie Bernd Buder bestätigt: "Es besteht eine Angststimmung in Estland und entsprechend wird auch die historische Situation im estnischen Kino oft formuliert."

Mitten im Interessenbereich zwischen Ost und West zu stehen – diese gemeinsame Geschichte teilen auch die beiden Nachbarländer Lettland und Litauen, die in den nächsten zwei Jahren als Schwerpunktländer des Festivals betrachtet werden sollen.

Dass diese Länder einzeln in den Fokus gerückt werden, ist Bernd Buder und seinem Team dabei sehr wichtig: "Die baltischen Länder werden ja immer so in einen Topf geworfen und immer, wenn es Foki gibt zu diesem Thema, dann sagt man 'das baltische Kino'." Das werde den drei Ländern, in denen jeweils eine vollkommen unterschiedliche Sprache gesprochen wird und es viele kulturelle Unterschiede gibt, nicht gerecht: "Ich habe das Gefühl, dass das litauische, estnische und lettische Kino auch sehr anders ist, Geschichten werden auch anders erzählt und diese Unterschiede wollen wir herausarbeiten und da können wir am besten Not tun, wenn wir die drei Länder nacheinander unter die Lupe nehmen."

Programm und Neuheiten des Festivals

Neben estnischen Filmen zeigt das Festival noch viele weitere osteuropäische Filme aus unterschiedlichsten Genres und Ländern. Highlight des Festivals sind oft die Wettbewerbsfilme, aber Bernd empfiehlt auch "in andere Sektionen reinzuschnuppern und selbst etwas zu entdecken".

Im Folgenden dennoch eine kurze Vorstellung einiger Sektionen und Filme.

Für kommerzielle Erfolgsfilme aus Osteuropa empfiehlt sich die Sektion "Hits". Darunter fallen Filme, die reichlich Unterhaltungswert bieten und gleichzeitig etwas zu sagen haben. Eine Perle aus der Sektion heißt "KYRGYZ ON MARS" (deutsch: Kirgisen auf dem Mars“) von Nurlanbek Kamchybekov. Ein kirgisischer Film, der von einem Physiklehrer und einem Flugbegleiter aus dem Dorf handelt, die davon träumen auf den Mars zu fliegen. Gemeinsam begeben sie sich auf Mission, während die Erde von einem abstürzenden Meteoriden bedroht wird, und wagen den Versuch die Welt zu retten. Der Film, der bewusst als B-Movie inszeniert wurde, weist laut Bernd nicht nur viel Situationskomik auf, sondern bildet auch eine Mentalitätsstudie ab, wodurch der Film in Kirgisistan zu einem Verkaufsschlager wurde.  

Eine weitere und neue Sektion, die dieses Jahr Premiere feiert heißt "Midnight Madness". Da geht es vor allem um Horror- und Fantasykino aus Osteuropa, das sonst oft etwas unter geht und auf internationalen Festivals weniger präsent ist. Für Bernd nochmal ein weiterer Anstoß, "zu zeigen, Osteuropa kann auch tolles Genreskino machen und auch relevantes."

Ein Film der Reihe ist der kirgisische Film "Burning" von Regisseur, Drehbuchautor und Schauspieler Radik Eshimov. Er handelt von einer auseinanderbrechenden Familie in einer Kleinstadt Kirgisistans, dessen Haus abbrennt. Auf der Suche nach Schuldigen und hinter verschiedenen Versionen der Ereignisse entpuppt sich dabei immer mehr eine Tragödie häuslicher Gewalt. Eine Folk-Horrorgeschichte, die sich in drei zeitgleichen Episoden abspielt und aus drei verschiedenen Perspektiven erzählt wird: der Perspektive der Mutter des Ehemannes, der Perspektive der Ehefrau und der Perspektive des Ehemannes. Der Film war, wie Bernd Buder erzählt "(…) Beginn einer ganzen Welle an Horrorfilmen über das Thema Gewalt gegen Frauen, in Kirgisistan ein leider offensichtliches Thema in der kirgisischen Gesellschaft." Die Filmemacher:innen haben sich Horrorfilme für ein breites Publikum zum Anlass gemacht, um auf das relevante Thema aufmerksam zu machen.

Auch neu und unbedingt sehenswert sind die Filme der Sektion "Don’t call me vintage!". Hier können Zuschauer:innen nicht nur ältere osteuropäische Kultfilme anschauen und die Filmtradition Osteuropas kennenlernen, sondern vor allem stilistische Pionierleistung bestaunen. Diese sei laut Bernd Buder nämlich alles andere als veraltet: "Wir haben in den letzten Jahren festgestellt, es gibt viele ältere Filme, die formal innovativer sind als vieles, was heute gemacht wird - Filme, die unheimlich frisch daherkommen und zeitgemäß bleiben."  

Im Kino Weltspiegel in Cottbus gibts neben gutem Popcorn auch gutes Programm.

Bild von Osteuropa hinterfragen

Alles in allem ein vielfältiges und sorgsam kuratiertes Programm, dass osteuropäische Filmkunst und damit auch osteuropäische Kulturen, Gesellschaften, Perspektiven, Geschichte und Gegenwart sichtbar macht.

Zumindest im Rahmen des Cottbusser Filmfestivals, denn: Seit den 1990er Jahren hat sich beim Thema Sichtbarkeit von osteuropäischem Film in Deutschland im Vergleich zu heute laut Bernd Buder insgesamt "sehr sehr wenig getan." Es seien natürlich viele Ko-Produktionen durch die EU-Mitgliedschaft eines Großteils Mitteleuropas und durch internationale Festivals, die Aufmerksamkeit auf Osteuropa legen, entstanden, aber im alltäglichen Kinobetrieb und auch auf den Streamingdiensten sei Osteuropa "nach wie vor gar nicht präsent".

Das habe sich auch durch die russische Invasion in die Ukraine nicht wirklich verändert. Zwar sei das Interesse der Menschen für Osteuropa laut Buder vielleicht leicht gestiegen, aber auf die Sichtbarkeit und den Erfolg von osteuropäischem Film habe das keine Auswirkungen. Wenn es ein osteuropäischer Film mal zu größerer Sichtbarkeit schafft, wie der tschechische Film "Kolya" von Jan Svěrák aus dem Jahr 1996, der plötzlich ein Millionenpublikum hat, ist es laut Buder oft ein Einzelfall. Die Erfolge von osteuropäischem Film lägen vor allem am Marketing der einzelnen Themen und werden auch dann "bestenfalls Achtungserfolge" – auch, weil osteuropäische Filme fast ausschließlich von lediglich kleinen Verleihen vertrieben werden.

Nichtdestotrotz freut sich Bernd Buder sehr, dass es nun auch der ukrainische Sciene-Fiction Film "U are your universe" von Pawlo Ostrikow am 4. September 2025 in die deutschen Kinos geschafft hat. Selbst wenn er auch hier leider nicht den Megaerfolg erwartet, hat der Film immerhin sehr viel Aufmerksamkeit durch Presse und Medien erhalten und sei einmal durch die Filmkritik gegangen. Für Buder eine erfreuliche Nachricht: "Wenn Osteuropa in Verbindung mit Krieg in den Schlagzeilen ist, dann ist es oft so, dass viele potenzielle Zuschauer:innen das Gefühl haben, sie wissen ja eigentlich schon genug davon." Das sei laut Buder Quatsch: "Film ist ja, wie wir alle wissen ein Medium, das nochmal hinter die Schlagzeilen der Tagesnachrichten schaut und halt wirklich zeigt, wie es den Leuten da geht."

Interesse ist da: Volles Haus im Weltspiegel beim Cottbusser Filmfestival

Neben der Vermittlung von Industriekontakten und Ko-Produktionen soll durch die Filmkunst gegenseitige Kenntnis und Neugierde erzeugt, Empathie geschaffen und zum Nachdenken angeregt werden. Welches Bild von Osteuropa habe ich? Welches Bild erfahre ich durch die Nachrichten? Wie ist die Stimmung in Osteuropa? Was für ein Leben wird in den unterschiedlichen ost- und mitteleuropäischen Ländern gelebt? Wie werden die Fragen, die gerade relevant sind von osteuropäischen Filmemacher:innen und Gesellschaften reflektiert? Wie werden die Fragen hierzulande und wie in Osteuropa diskutiert?

Für eventuelle Antworten oder womöglich noch mehr Fragen, aber definitiv einen Eindruck lohnt sich ein Besuch auf dem Cottbusser Filmfestival für osteuropäischen Film sehr. Ob estnische Fabelwesen, kirgisischer Horrorfilm, osteuropäische Kultfilm-Klassiker, Sci-Fi, Komödien, Kinderfilme oder Dokus - Osteuropäischer Film kann düster, schrill, artifiziell, Horror und lustig und ist es mehr als wert, endlich gesehen zu werden.

Tickets und Akkreditierungen für das FilmFestival Cottbus gibt es online oder während der Festivalwoche vor Ort an den Kinokassen jeder Spielstätte. Hier gehts zum Festivalprogramm.

Am Mittwoch, den 5. November ist zudem Studitag. An diesem Tag haben alle Studierenden freien Eintritt zu sämtlichen Vorführungen des Festivals Cottbus. Alles, was dafür nötig ist: ein gültiger Studierendenausweis.

Wer nach ost- und mitteleuropäischem Kino in Berlin sucht, wird im Kino Krokodil fündig. Mehr über Programmkinos in Berlin findet ihr auch hier im ALEX Blog.

Interview & Text: Hanna Körner

Bilder: FilmFestival Cottbus

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