Im italienischen Bergdorf Rimella ticken die Uhren anders. Der Naturraum ist durch imposante Berge geprägt. Eine Studi-Gruppe der Uni Potsdam geht auf die Suche nach dem Raum- und Zeitverständnis der Bewohner:innen.
Die kleine Gemeinde Rimella ist idyllisch in den italienischen Alpen gelegen. Zu beiden Seiten des Tals fallen die Behänge steil ab. Ein paar Häuser trotzdem dem Terrain und der Witterung. Es sind kleine Inseln des Menschengemachten in der ozeanischen Wildnis der Berge. Sturzbäche rauschen in die Talshole und ergießen sich in den Wildwasserfluss Mastallone. Den knapp über 100 dauerhaft hier lebenden Menschen und ihren tausenden Ziegen, Schafen und Kühen bietet sich zauberhafter Anblick. Einmal im Jahr findet ein besonderer Perspektivwechsel statt und eine Gruppe Studierender der Uni-Potsdam fällt in die eingeschworene Gemeinde ein. Sie sind auf der Suche nach Antworten und drehen für eine TV-Sendung.
Rimella ist ohne Frage ein extremes Beispiel. Das war den Studierenden im Vornhinein bewusst. Doch eben dieser Umstand macht es zu einem interessanten Ziel für eine Entdeckungsreise, um Raum und Zeit zu verstehen. Aber Moment mal, was macht eine Gruppe von Stadtkindern so weit weg von LTE-Empfang und der nächsten U-Bahnstation im ländlichen Piemont?
Sie alle teilen eine Gemeinsamkeit. Sie studieren angewandte Kulturwissenschaft & Kultursemiotik im Master. Der Studiengang will die philosophisch anmutenden Überlegungen der Kulturwissenschaft aus ihrem Elfenbeinturm holen. Die Rimella-Exkursion findet immer zum Frühsommer im Rahmen des Moduls „Medienpraxis“ statt. Innerhalb des Moduls wird die Sendung Kulturen im Fokus in Kooperation mit dem MIZ Babelsberg produziert. Studierende bilden Gruppen für die Einspielerproduktion, erarbeiten gemeinsam ein Oberthema und beginnen mit dem Dreh. Dieses Jahr steht Raum und Zeit im städtischen bzw. ländlichen Raum im Fokus. Eine Gruppe bleibt also in Berlin, die anderen gehen mit Kamera, Mikrofon und einem Kopf voll Fragen heraus in die Natur.
Schon während der Fahrt nach Rimella wird der Gruppe klar: Ein Filmdreh in den Bergen ist kein Sonntagspaziergang. Der kleine Flexibus schlängelt durch die Serpentinen auf der einzigen Bergstraße, die nach Rimella führt. Nachdem der Bus Varallo passiert, die nächste „Stadt“ mit gut 6000 Einwohner:innen, wird das Terrain immer unwegsamer. Den ersten wird leicht übel durch das Geschaukel und schlafen kann fast niemand mehr. Auf den Ohren macht sich ein leichter Druck bemerkbar.
Am ersten Tag sind alle Müde von der Langen Anfahrt mit dem Zug. Außer einem kleinen Rundgang durch das Dorf steht nichts mehr auf dem Programm. Aber gleich am nächsten Tag starten die Erkundungstouren. Schnell wird klar, hier bewegt man sich ganz anders durch den Raum. Abseits der schmalen Trampelpfade lauern Vipern. Wanderstöcke eignen sich gut, um das Hohe Gras abzutasten und so die Giftschlangen zu verscheuchen. Aber nicht nur dafür schaffen sie Sicherheit. Abseits des Weges geht es bergab und das Durchqueren des Raumes wird zu einer Gradwanderung. Von oben betrachtet sieht die zurückgelegte Strecke, im Vergleich zur Erschöpfung nach dem Aufstieg, geradezu winzig aus.
Auch Zeit funktioniert hier anders. Nicht Termine, sondern die Natur und die Jahreszeiten bestimmen darüber, wie der Tag abläuft. So erzählen es zumindest die Interviewpartner:innen. Aber können die Studis dieses Zeitempfinden ebenso erleben? Tatsächlich müssen Interviewtermine eingehalten werden und das Abendessen findet immer um acht Uhr abends statt. Dadurch ist es doch oftmals die Uhr (und die Dozentin, mit strengem Blick auf das Wandertempo und die noch zurückzulegende Strecke), die über die Zeit bestimmt.
Einmal wird ein Drehteam von Starkregen überrascht. Dabei kommt es zu einem interessanten Perspektivwechsel innerhalb des Perspektivwechsels. Glücklicherweise ist der Drehort mit dem Auto zu erreichen. Also holt die Dozentin ihre Studierenden verantwortungsbewusst mit ihrem Kleinwagen ab. Während der Fahrt rückt unweigerlich der Vergleich zwischen dem beschwerlichen Hinweg – mit der Technik auf dem Rücken über Stock und Stein – und dem einfachen Rückweg ins Bewusstsein. Das Auto macht den Raum kleiner, die Transporte einfacher und vor allem das Leben der Locals weniger beschwerlich. Aber es sprengt die romantische Vorstellung der abgelegenen Bergidylle.
Hier prallen zwei Lebenswelten aufeinander. Tourist:innen besuchen Rimella, um Raum und Zeit zu vergessen. Sie wollen das einfache Hirtenleben sehen und beim Wandern ihren Großstadtstress weit hinter sich lassen. Doch die Hirt:innen sind nicht nur bei Postkartenwetter mit ihren Tieren draußen. „Aber das sehen die Touristen nicht. Denn wenn es gewittert, dann bleiben sie lieber im Hotel als sich in die Berge zu wagen“, sagt uns Hirte Frederico im Interview.
Die Romantisierung von einem Lebensstil ist immer falsch. Hirt:in wirst du nicht, weil es einfach ist. So drückt es auch der Hirte Denis aus.: „Man braucht Leidenschaft! Sonst hörst du nach ein paar Wochen wieder auf.“ Die mythisch anmutende Figur des Hirten ist ebenso wenig real, wie die Bergidylle. Wenn kein LKW Material und Verpflegung bringen kann und der Krankenwagen ohne Straße im Notfall nicht kommt, bricht eine andere Sicht auf den Mythos ein. Er verliert seine Magie.
Das Hinterfragen ländlicher und städtischer Mythen ist ein Anspruch der neuen Folge „Kulturen im Fokus“. Mit Zeit und Raum als thematischen Wegmarkern stellt die Sendung Menschen aus Berlin und Rimella vor. Die Berliner Gruppe liefert Einblicke in den Alltag von Türpersonal. Als urbanes Gegenstück zu Hirt:innen wachen sie über ihren Raum, den Club, und prägen die städtische Kulturlandschaft mit. Sie müssen selektieren, wer reinkommt und wer draußen bleibt. Aber auch die Hirt:innen von Rimella müssen ihre Herde vor Eindringlingen schützen. Welche das sind, erfahrt ihr in der neuen Folge Kulturen im Fokus!
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