Das gesellschaftliche Bild von Mutterschaft ist weit von der Realität entfernt. Und das hat fatale Folgen für Mütter: Kostenlose Carearbeit mit Erwerbstätigkeit zu vereinbaren wird zu einer unlösbaren Aufgabe. ALEX Berlin-Redakteurin Ronja Baudisch hat bei Schauspielerin und Mutter Claude de Demo nachgefragt: Was macht das Bild der "guten Mutter" mit uns?
Auf der einen Seite wird von Müttern erwartet, dass sie bedingungslos und liebevoll für ihre Kinder sorgen - natürlich kostenlos und gerne. Gleichzeitig werden sie auf dem Arbeitsmarkt gebraucht und sollen deshalb so schnell wie möglich nach der Geburt ihres Kindes wieder in die Erwerbsarbeit einsteigen. Diese gesellschaftliche Anforderung, Erwerbsarbeit mit unbezahlter Sorgearbeit zu vereinbaren, wird in der Soziologie als die doppelte Vergesellschaftung der Frau bezeichnet. Dieses Paradoxon kennt auch Schauspielerin Claude de Demo.
Als Claude de Demo zum ersten Mal Mutter wird, ist sie müde, überfordert und verzweifelt. Verzweifelt, weil sie ihrer Arbeit als Schauspielerin nicht mehr so nachgehen kann, wie sie das vorher gewohnt war. Claude zweifelt und sucht den Fehler bei sich selbst. Was ihr damals nicht klar war: Sie ist damit nicht allein. Denn die Überforderung von Müttern, die es weder sich selbst noch anderen recht machen können, ist vor allem ein strukturelles Problem.
Jahre nach der Geburt ihres zweiten Kindes liest Claude ein Buch über regretting motherhood – der anhaltende Zustand von Frauen, die es bedauern, Mutter geworden zu sein. Claude wird klar: Sie ist mit ihren Gefühlen nicht allein. Und vor allem: Sie selbst ist nicht das Problem. Aber warum wird so wenig über die Realität von Mutterschaft gesprochen? Warum ist die durchschnittliche Mutter in der medialen Öffentlichkeit eine weiße Person mit perfekter Frisur, die sich neben ihrem Beruf mit Freude und Leichtigkeit um Kinder und Haushalt kümmert? Warum werden Mütter, die diesem Bild nicht entsprechen, immer wieder abgewertet und allein gelassen?
Die kurze Antwort: Weil unser System davon abhängt. Ohne unbezahlte Sorgearbeit würde der Kapitalismus zusammenstürzen. „Das Patriarchat braucht den Kult der glücklichen Mutter“, sagt De Demo. Denn ohne unbezahlte Sorgearbeit kann es keine bezahlte Arbeit geben. Sorgearbeit ist alles, was den Haushalt betrifft. Also Einkaufen, Kochen, Putzen, Wäsche, Aufräumen. Mit Kindern vervielfacht sich die zu leistende Sorgearbeit: Mails für die Schule müssen beantwortet und Hausaufgaben betreut werden, die Kinder zu ihren Verabredungen gefahren und die Verabredungen vorher organisiert werden. Mehr Wäsche, mehr Putzen, mehr Kochen. Wenn das Kind krank oder die Kita geschlossen ist, muss jemand zu Hause bleiben. Und all diese Dinge macht meistens die Mutter. Warum?
Durch die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen, der gender pay gap, verdienen Frauen in einer heterosexuellen Partnerschaft schon vor der Geburt ihres ersten Kindes weniger Geld als ihr Partner. Um die anfallenden Kosten zu stemmen, unterbricht meistens die Mutter ihre Erwerbstätigkeit – der Vater verdient schließlich mehr. Während die Frau zu Hause unbezahlte Sorgearbeit leistet, steigt der Vater die Karriereleiter weiter hinauf. Der pay gap wird größer. Beide Eltern können nicht in Vollzeit arbeiten, dafür bräuchte es 24-Stunden-Kitas oder andere Betreuungsmodelle in Deutschland.
Das Resultat: der Gender-Care-Gap. Frauen leisten pro Tag durchschnittlich 44,3 Prozent mehr Sorgearbeit als Männer (Quelle: Statistisches Bundesamt). Je mehr Sorgearbeit eine Person leistet, desto weniger Zeit hat sie, einer bezahlten Tätigkeit nachzugehen. Das resultiert in geringeren beruflichen Chancen, einem geringeren Lebenseinkommen und somit in einer geringeren Rente. Schlussendlich verdienen Mütter in ihrem Leben im Schnitt eine Millionen Euro weniger als Väter und jede fünfte Frau über 65 Jahren ist von Armut gefährdet (Quelle: Statistisches Bundesamt). Durch die ungleich verteilte Sorgearbeit verlieren Frauen also ihre finanzielle Unabhängigkeit.
In Deutschland arbeiten zwei Drittel der Frauen mit Kind, die erwerbstätig sind, in Teilzeit (Quelle: Statistisches Bundesamt). Damit arbeiten Mütter so häufig in Teilzeit wie in kaum einem anderen Land in Europa – nur in den Niederlanden sind es mehr. Zum Vergleich: Nur knapp sieben Prozent der Väter in Deutschland arbeiten in Teilzeit.
Das liegt nicht zuletzt an der sehr ambivalenten Arbeits- und Familienpolitik in Deutschland. Denn die bevorzugt das klassische Familienmodell: „Ehe und Familie stehen unter besonderem Schutze“, heißt es im Grundgesetz. Durch Regelungen, wie beispielsweise das Ehegattensplitting, haben verheiratete Paare einen steuerlichen Vorteil, wenn eine Person deutlich mehr als der oder die andere verdient. In der Praxis ist dies laut Bundeszentrale für politische Bildung häufig der Fall, wenn eine Person Elterngeld bezieht und nur minimal dazuverdient und der oder die Partner:in volles Gehalt bezieht.
Studien haben außerdem gezeigt, dass die finanzielle Sicherheit das wichtigste Kriterium für Einstellungen bezüglich erwerbstätiger Mütter ist, berichtet das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Das bedeutet: Eine berufstätige Mutter ist vor allem dann gesellschaftlich akzeptiert, wenn es sich finanziell für sie lohnt. Und das ist, wie bereits erläutert, selten der Fall.
Dass Mütter weniger bezahlt arbeiten als Väter hat nicht nur finanzielle Gründe. In Deutschland gibt es ein klares Bild der „guten“ Mutter. Diese kulturellen Normen zeigen sich im deutschen Sprachgebrauch: Eine Mutter, die sich nicht selbst um ihre Kinder kümmert, wird schnell als „Rabenmutter“ oder „Karrierefrau“ bezeichnet. Wie der männliche Begriff dafür lautet? Er existiert nicht.
"Die ‚gute Mutter‘ ist fürsorglich, liebt bedingungslos. Leistet sehr viel häusliche Arbeit, Pflegearbeit. Unentgeltlich, weil sie aus Liebe handelt," sagt Claude de Demo und meint dabei nicht ihr eigenes Bild, sondern das der Gesellschaft. Und obwohl dieses Bild der guten Mutter in der deutschen Kultur so festgefahren scheint, ist es ihr nicht in die Wiege gelegt.
Nach der Entstehung im gehobenen Bürgertum des 18. Jahrhunderts waren es die Nationalsozialisten, die die glückliche Mutter zum Kult werden ließen. Die Mutterschaft wurde zum „Schlachtfeld der Frau“, wie man im Deutschen Historisches Museum erfährt. Eine Frau, die viele Kinder auf die Welt brachte, wurde mit dem Ehrenkreuz der Deutschen Mutter ausgezeichnet. Ab vier Kindern wurde ein bronzenes Kreuz verliehen, ab dem Sechsten das Silberne und ab dem Siebten das Goldene. Verliehen wurde das Kreuz am Muttertag. Um den Wunsch nach Mutterschaft zu steigern, wurden wirtschaftliche Anreize geschaffen und die Mutterrolle idealisiert. Das klingt erschreckend bekannt, oder?
Ein Kind zu bekommen ist also oft eine große Herausforderung – vor allem finanziell und vor allem für Frauen. Gibt es einen Ausweg aus dieser Loose-Loose-Situation? Claude de Demo ist überzeugt: "Man kann Wege schaffen – und ich glaube, das ist in anderen Ländern auch schon so – über die Mütter wieder in den Beruf zurückkehren können, ohne abgewertet zu werden.“ Und diesen Weg kann jede und jeder von uns ein Stück weit mit ebnen, indem wir aufhören, Mütter zu bewerten und zu verurteilen.
Das ganze Interview mit Claude De Demo erscheint am Freitag, den 14. April um 18:30 Uhr im TV bei ALEX Berlin und on demand im ALEX Kosmos.
Titelbild: Berliner Ensemble/ Matthias Horn, Interviews und Text: Ronja Baudisch
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