Mit dem Rollstuhl von A nach B – Wie barrierefrei ist der Berliner Nahverkehr?

Mitten auf der U8, an der gutbesuchten Residenzstraße, stehen Fahrgäst:innen mit Rollstuhl vor einem Problem, das auch alle fünf möglichen Ausgänge nicht lösen können: Ein Aufzug fehlt. Dieser Situation begegnen täglich viele Menschen. ALEX Berlin-Redakteur Johannes Gerwin hat die Barrierefreiheit des Berliner ÖPNV unter die Lupe genommen.

Die U-Bahn-Türen fallen unsanft ineinander, das grelle Bahnhofslicht verfängt sich im Auge und die grüne Schrift auf der weißen Kachelwand verkündet das Ende der Reise: Franz-Neumann-Platz. Mitten auf der vielbefahrenen U8, an der gutbesuchten Residenzstraße, stehen Fahrgäst:innen mit Rollstuhl oder anderen Mobilitätseinschränkungen wie einem Kinderwagen vor einem plötzlichen Problem, das auch alle fünf möglichen Ausgänge nicht lösen können: Ein Aufzug fehlt. Dieser Situation begegnen täglich viele Berliner:innen, die mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ihre Wege bestreiten und oftmals durch fehlende Infrastruktur ausgebremst werden.

142 von 175 Berliner U-Bahnhöfe sind mit mindestens einem Aufzug ausgestattet, doch wie schwer wiegen die restlichen 33 Stationen? Sind die Gebiete rund um diese Bahnhöfe für Rollstuhlfahrer:innen kaum bewohnbar? Vor allem Stationen im B und C-Bereich und auffällig oft östlich des S-Bahn-Rings bieten keine Aufzüge an.

Nur 10% der Berliner Bushaltestellen sind barrierefrei

Mit dem Projekt „BVG Muva“ bietet die BVG eine Alternative für Stationen ohne Aufzug an: Der Shuttleservice transportiert Fahrgäst:innen per App oder Anruf von der einen Aufzug missenden Station zu dem nächsten Standort, der die Rollstuhlfahrer:innen näher zum Ziel bringt oder über einen Aufzug verfügt. Dieser Service ist gezielt in anbindungsschwächeren Gebieten verfügbar. Ein Schritt in die richtige Richtung, natürlich aber keine endgültige Lösung. Findet auch Carsten Baumann, Gruppenleiter von „Radio Kohli“, einem Kreuzberger Radioprojekt für Menschen mit Behinderung: Er selbst hat das Angebot für seine Gruppen noch nie angefordert, findet die Bedienung zu umständlich und die versprochene Wegersparnis zu marginal.

Natürlich stellt die U-Bahn nicht die einzige Möglichkeit der Fortbewegung in Berlin dar: In 95% aller S-Bahnhöfe ist ein Aufzug vorzufinden, deren Verfügbarkeit im letzten Jahr bei rund 98% lag. Zudem sind alle Berliner Busse, Straßenbahnen und Fähren niederflurig und somit grundsätzlich barrierefrei. Konträr dazu ist aber im Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) festgehalten, dass nur die Zugangsmöglichkeiten zu Fahrzeugen als barrierefrei gelten, die „ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind“. Somit gelten Busse mit ausklappbaren Rampen, die durch das Fahrpersonal bedient werden müssen, gesetzlich nicht als barrierefrei.

Unter Inbezugnahme dieser Faktoren fällt der Anteil der komplett barrierefreien Bushaltestellen auf rund 10%. Um bei den Buslinien die bauliche Umsetzung der Barrierefreiheit zu beschleunigen, wurde ein Komitee bestehend aus Menschen mit Behinderung befragt, die die 100 bedeutsamsten Haltestellen Berlins identifizieren sollten, denen sich mit erhöhter Priorität gewidmet wird.

ein junger Mann mit Halstuch und Kopfhörern links im Bild, daneben ein Mann mit Bart der in ein Mikro spricht, ganz rechts ein Mann mit Brille und Kopfhörern, der in einem Rollstuhl sitz.
Johannes im Gespräch mit Carsten Baumann von „mosaik e.V.“

Barrierefreiheit ist mehr als nur Infrastruktur

Ute Bonde, die Senatorin für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt, erklärt, dass Berlin bei der Umsetzung des Zieles der kompletten Barrierefreiheit im Nahverkehr "zwar schon recht weit [sei], […] [dieses] aber keinesfalls als abgeschlossen betrachtet werden [könne]". Seit 2013 ist die Zielsetzung der vollständigen Barrierefreiheit als zentraler Punkt in das bundesweit gültige PBefG (Personenbeförderungsgesetz) aufgenommen worden, geplant war der Abschluss des Projektes 2022.

12 Jahre später ist definitiv eine Verbesserung erkennbar, von der vollständigen Barrierefreiheit sind Berliner Bahnhöfe allerdings noch weit entfernt. Bonde beschreibt barrierefreien ÖPNV als einen Prozess und nicht als einen irgendwann konkreten zu erreichenden Zustand.

Carsten sieht das ähnlich wie die CDU-Politikerin: Auch er findet, dass infrastrukturell schon viel in die Wege geleitet wurde. Er macht für Probleme bei der Barrierefreiheit eher soziale Umstände verantwortlich: "Die Aufzüge werden teilweise durch Vandalismus zerstört oder unbenutzbar gemacht." Er spricht von eingeschlagenen Scheiben, starker Geruchsbelästigung und dreckigen Böden.

Auch die Radio-Kohli - Redaktionsmitglieder Azye, Benedict und Oliver, die die Fortbewegung in Berlin mit Rollstuhl nur zu gut kennen, pflichten dieser Beobachtung bei. Auf die Frage, was sich im Berliner Nahverkehr verbessern sollte, antwortet Azye: "Die Menschen". Carsten stimmt zu und beschreibt, dass oftmals Personen den Aufzug benutzen, die ihn nicht benötigen, wodurch Rollstuhlfahrer:innen der Weg versperrt und der Zugang zum Bahnhof erschwert wird.

Bei einer Fahrt mit dem ÖPNV muss auf jeden Fall frühzeitig geplant werden: An welchen Stationen gibt es überhaupt einen Aufzug und ist dieser heute funktionsfähig? Carsten beschreibt, dass die Angaben zu kaputten Aufzügen bei der BVG teilweise nicht aktuell sind, somit steht man mitunter selbst mit vorheriger Recherche doch vor einem nicht funktionierenden Aufzug. Auch differieren die Fortbewegungsmöglichkeiten abhängig von der Ausstattung der Wägen. Ältere U-Bahn-Modelle können nicht selbstständig mit einem Rollstuhl betreten werden, teilweise müssen mit größeren Gruppen mehrere Bahnen abgewartet werden, bis ein neueres Modell mit ebenerdigem Zugang einfährt.

Barrierefreier Nahverkehr bis zum Anfang der 2030-Jahre geplant

Wie kann die Situation verbessert werden? Der Senat sieht vor allem beim barrierefreien Ausbau von Bushaltestellen sowie beim Bau neuer Aufzüge Verbesserungsbedarf. Bonde spricht von einem "große[n] Umsetzungswillen", oft scheitert es wohl an fehlendem notwendigem Personal, Materialengpässen sowie nicht näher definierten Einsprüchen Dritter scheitern. Zudem verfügt Berlin über ein teilweise sehr altes Schienen- und Bahnhofsnetz, in dem Sanierungen nicht nur finanziell, sondern auch logistisch ein Problem darstellen. Auch ist die Kommunikation ein schwieriges Thema: Momentan liegt die Verantwortung in großen Teilen bei den einzelnen Bezirken, die sich wiederum bei der Umsetzung der einzelnen Maßnahmen abstimmen müssen. An welcher Stelle es genau hakt, ist von außen schwer zu beurteilen. Offiziell geht die BVG davon aus, bis Anfang der 2030er-Jahre in allen Bereichen barrierefreien Nahverkehr anbieten zu können, der Verkehrskonzern spricht beim Thema der Barrierefreiheit von einer "Herzensangelegenheit".

Neben den strukturellen Verbesserungsmöglichkeiten können alle Bürger:innen dazu beitragen, jeder Person eine angenehme Fahrt durch Berlin zu ermöglichen.

Inwieweit werden Betroffene direkt mit einbezogen? Der Senat hat vor über zwanzig Jahren die "AG Menschen mit Behinderungen" ins Leben gerufen, in der Betroffenenverbände und Verkehrsunternehmen über die Weiterentwicklung beratschlagen und potenzielle Probleme identifizieren. Im Senat wurde ebenfalls eine Koordinierungsstelle eingerichtet, durch welche die Kommunikation mit Betroffenenverbänden ermöglicht werden soll und die Vernetzung mit anderen Akteuren der Berliner Verwaltung ausgebaut werden kann. Bei komplexeren Projekten werden standardmäßig auch die Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen und der Allgemeine Blinden- und Sehbehindertenverein beteiligt.

drei Männer und eine Frau sitzen um einen Tisch mit Mikrofonen, Notizen und Getränken, sie tragen Kopfhörer und unterhalten sich
Die „Radio Kohli“ - Mitglieder Oliver, Azya und Benedict (von links) berichten von ihren eigenen Erfahrungen

Barrierefreiheit in anderen europäischen Metropolen

Im europäischen Vergleich gibt Berlin kein schlechtes Bild ab. Die meisten Pariser Metrolinien sind weder mit Rampen noch mit Aufzügen ausgestattet, auch in London ist nur jede dritte Untergrundbahnstation mit Rampe oder Aufzug zu erreichen. Mit gutem Beispiel geht der Amsterdamer Nahverkehr voran: Alle Bahnhöfe sind mit einem Auszug ausgestattet und auch die Straßenbahnen und Busse sind alle stufenlos erreichbar. In Oslo dürfen darüber hinaus Menschen mit Rollstuhl sogar kostenlos mitfahren.

Die BVG beschreibt den Stand der Barrierefreiheit im Berliner Nahverkehr, verglichen mit anderen internationalen Metropolen mit ähnlicher Größe und Alter der Verkehrsstrukturen, als sehr fortschrittlich.

Laut Berliner Teilhabebericht leben ca. 630.000 Menschen mit Behinderungen in Berlin. Die Rollstuhlfahrer:innen machen in dieser Zahl nur eine kleine Gruppe aus. Der Nahverkehrsplan Berlin 2019/2023 geht davon aus, dass rund 35 Prozent der Menschen in ihrer Mobilität beeinträchtigt sind, wenn "weitere Formen der Mobilitätsbeeinträchtigung, beispielsweise alters-, krankheits- oder verletzungsbedingt, sowie Nutzergruppen mit temporären Einschränkungen, wie Schwangere oder Fahrgäste mit Kleinkindern, Kinderwagen oder großem Gepäck" hinzugezählt werden. Barrierefreiheit mitzudenken und aktiv mitzugestalten ist somit für alle Berliner:innen von größter Wichtigkeit.

Die Fortbewegung in der deutschen Hauptstadt mit einem Rollstuhl kann einem Abenteuer gleichen: Fehlende oder kaputte Fahrstühle, Vandalismus und fehlende Hilfe von Dritten können die Fahrtzeit schnell vervielfachen. Veränderungen in Berlin sind nicht einfach zu bewerkstelligen: Alte Verkehrsanlagen, umständliche Bürokratie und finanzielle Probleme machen Umbauten schwierig. Dennoch muss Mobilität immer mit allen Verkehrsteilnehmer:innen gedacht werden: Nur so entsteht Gerechtigkeit, nur so kann Berlin ein Ort für Alle, ein Ort der Toleranz und unbegrenzten Möglichkeiten sein. Wir alle können mithelfen, jeder Berliner:in eine angenehme und stressfreie Fahrt zu ermöglichen. Barrierefreiheit definiert sich nicht nur durch Infrastruktur, Leitsystemen oder Aufzügen. Barrierefreiheit fängt bei Mitmenschlichkeit an, bei Achtsamkeit und bei gegenseitiger Hilfe.

Weitere Informationen gibt es auf Berlin Inklusiv.

 

Bilder: Helen Besel, Johannes Gerwin; Redaktion, Interviews und Text: Johannes Gerwin

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