Was bedeutet Kultur? Was rechtfertigt ihre Existenz? Welchen Wert hat sie? Brauchen wir sie noch? ALEX-Autorin Hanna Körner hat sich der Debatte um den Wert von kultureller Vielfalt angenommen und kleine Liebesbriefe an die Kultur gesammelt.
Unabhängig davon, dass sich die Kultur selbst tagtäglich kritisch mit sich selbst auseinandersetzt und sich diese Fragen stellt, waren sie nicht zuletzt in der Corona-Pandemie sehr präsent. Es war die Zeit, in der Kulturinstitutionen schließen mussten, bei Corona-Regelungen und Vorschriften teils schlichthin vergessen wurden oder die Kulturbranche als "nicht systemrelevant" und irrelevant abgekanzelt wurde.
Vor diesem Hintergrund hatte Autor und Musiker Max Richard Lessmann im Oktober 2020 folgendes Gedicht auf Instagram veröffentlicht:
Ein Gedicht, dass die damalige Debatte und Wahrnehmung rund um das Thema Relevanz und Daseinsberechtigung von Kunst und Kultur meiner Meinung nach auf den Punkt bringt.
Keine fünf Jahre später flammen diese Fragen wieder auf. Berlins Kultur steckt in einer historischen und existenzbedrohenden Krise. Ende 2024 werden Berlins Kulturinstitutionen mit unverhältnismäßigen Kürzungen im Kulturetat für das Jahr 2025 überrumpelt, für die sich über die Köpfe der Kulturschaffenden und ihrer Vertreter:innen hinweg entschieden wurde. Gesicht der Kulturkürzungen: Kultursenator Joe Chialo, der für seine intransparenten Entscheidungen, mangelnde Kommunikation und das Durchwinken der Kürzungen massiv kritisiert wird. Darauf folgte die Ankündigung von noch einschneidenderen Kürzungen für 2026 und 2027, die unweigerlich eine großflächige Zerstörung der Berliner Kulturlandschaft bedeuten. Und nicht nur das: sie zeigen einen Systemwandel und gewollten Paradigmenwechsel in Berlins Kulturpolitik. Was bedeutet: Statt Dialog, Diskussionen und demokratischen Verhandlungen gibt es „Ordre per Mufti“, wie es Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates treffend beschreibt.
Vergangenen Freitag, am 2. Mai 2025 ist Kultursenator Joe Chialo nun zurückgetreten. Endlich. Lange haben das Kulturschaffende in Berlin gefordert. Doch bedeutet sein Rücktritt jetzt das große Aufatmen für Berlins Kulturlandschaft? Wohl kaum. Es ist viel Vertrauen verloren gegangen und die neue Ausrichtung der Kulturpolitik bleibt erschreckend.
Möglicherweise ein kleiner Lichtblick: Die am 5. Mai 2025 neu ernannte parteilose Berliner Kultursenatorin Sarah Wedl-Wilson, die als langjährige Kennerin der Berliner Kulturszene gilt. Doch es bleibt abzuwarten, zu groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie den Sparkurs des Berliner Senats weiter verteidigt und ihr Versprechen einen konstruktiven, fairen Dialog mit den Kultureinrichtungen zu suchen, leer bleibt. Es bleibt ebenso abzuwarten, wie Wedl-Wilson mit den angekündigten Privatisierungsplänen der Berliner Staatstheater weiterverfährt, die eine Umwandlung der Rechtsform des Theaters bedeuten würden und seitens der Berliner Landesbühnen auf scharfe Kritik stoßen.
Noch besorgniserregender, (falls das überhaupt irgendwie geht), ist die Verkündung der CDU am vergangenen Montag, am 28. April 2025: Der rechtskonservative Medienunternehmer Wolfram Weimer wird neuer Kulturstaatsminister. Der langjährige Kumpel von Friedrich Merz soll nun auf Bundesebene die neue Linie durchsetzen.
Die Lage macht Berlins Kulturschaffende fassungslos und wütend. Dabei betrifft das nicht nur die Kulturschaffenden. Der Abbau von Kultur bedeutet auch den Abbau von Demokratie und sollte uns daher alle dazu animieren sich zu wehren und dagegen einzusetzen. Es ist höchste Zeit die Bedeutung und den Wert von Kultur für die Gesellschaft und Demokratie zu bestärken und hervorzuheben. Es ist höchste Zeit also für eine Liebeserklärung an Kunst und Kultur in Berlin!
Was Kultur für jede:n bedeutet ist sehr subjektiv und individuell. Dieser Blogbeitrag bildet nur ein paar Aspekte und Sichtweisen über Kultur ab. Wobei es vielmehr geht, ist der Versuch, den Wert von Kunst und Kultur für das Individuum und unsere Gesellschaft herauszuarbeiten und zu benennen. Denn dieser scheint für viele Menschen unsichtbar zu sein oder unterschätzt zu werden. Und es ist schwierig, weil der Wert von Kunst und Kultur nicht messbar ist, wie Max Richard Lessmann bereits lyrisch beschrieben hat. Kunst und Kultur bringen kein großes Geld ein und müssen sich vermutlich gerade daher immer und immer wieder der Frage nach ihrer Daseinsberechtigung stellen. Aber wie geht das jetzt? Etwas greifbar machen, was zutiefst innerlich ist? Vielleicht gerade durch Kunst und Kultur?
Für die Liebeserklärung haben wir eine Straßenumfrage gemacht und die Antworten als Liebesbrief-Schnipsel gesammelt:
Kultur in all ihren vielfältigen und komplexen Facetten zu begreifen und sie in ihrer Bedeutung und Wirkung zu beschreiben ist oft gar nicht so einfach. Denn Kultur ist tief in unserem Leben, in unserem Alltag und in uns selbst verwurzelt. Dabei können Kulturverständnisse sich stark unterscheiden und sind von vielen Dingen abhängig: von der Sozialisierung, Ländern, Sprachen, Geschlecht und Herkunft. Was jedoch alle Kulturen miteinander vereint, ist, dass der Mensch ohne Kultur nicht überlebt hätte. Der Mensch ist ein kulturelles Wesen, dem die Kultur es ermöglicht hat, seine natürliche Umwelt zu manipulieren und zu nutzen, um seine Überlebensbedingungen zu verbessern. Dazu gehörte die Entwicklung von Werkzeugen, technologischen Innovationen wie Feuer, die Erforschung und Nutzung von Nahrungsmitteln wie auch die Entwicklung sozialer Strukturen und Sprache, die zwischenmenschliche Zusammenarbeit ermöglichte.
Kultur ist also früher wie heute zentral in unserem Leben, sie ist in uns, um uns und zwischen uns. Kultur ist alles, was Interaktion zwischen Menschen ermöglicht. Hierbei wird "Kultur" als überordnender Begriff verwendet für unterschiedliche Kulturen und Kulturverständnisse.
Wir können uns nicht außerhalb von Kultur betrachten und wahrnehmen, weil sie von uns Menschen gemacht ist, uns sozialisiert und formt. In einem sehr weiten Kulturverständnis kann man sagen, dass Kultur alles ist, was nicht Natur ist und das ist eine Menge. Kultur steckt in Zeichen, in Sprache, im Essen, in der Arbeit, in der Herstellung jeglicher Produkte – um nur ein paar wenige Beispiele zu nennen. Kultur widerfährt uns und wir können uns ihr nicht entziehen. Was wir aber machen können, ist Kultur und damit einhergehende Strukturen, Denkweisen, Normen und Konventionen in uns, unserer Gesellschaft und Leben zu hinterfragen, zu reflektieren, zu verändern oder anzupassen.
Hierbei sind vor allem die Orte zentral, die „dritten Orte“, also Kulturorte wie Museen, Theatern, Kinos, Bibliotheken, Clubs, Konzerthäuser, Kneipen, die wichtige Räume für eine geistige Auseinandersetzung für freies Denken, Lachen und Reflektieren sind und wo sozialer Austausch, Begegnung zwischen Menschen und gemeinsame Erlebnisse stattfinden.
An solchen Orten setzen sich Kulturschaffende professionell mit Kultur, Kreativität und Kunst auseinander, die die geistigen Aspekte des Menschseins erfahrbar machen. Dabei ist der Kulturort ein Raum, in dem offen und ohne Tabus die vom Menschen erschaffene Strukturen, Denk- und Verhaltensweisen hinterfragt, Themen, Krisen und Kriege unserer Zeit beleuchtet werden dürfen, gesellschaftliche Debatten widergespiegelt und Fragen angestoßen werden dürfen und im besten Fall Zuschauer:innen zum Nachdenken angeregen. Dabei wird klar, dass Kulturveranstaltungen keinen reinen Unterhaltungsfaktor, sondern auch aufklärerischen Faktor haben und Menschen mit sich selbst wie auch mit anderen verbinden und in Kontext setzen und dabei inspirierend wie auch tröstend sein können. Eckart von Hirschhausen schreibt dazu in einem Artikel für die Zeitung Politik und Kultur: "Gute Kunst lenkt nicht ab, sondern hin. Sie bündelt unsere Aufmerksamkeit und bringt damit etwas in uns in Schwingung, in Resonanz."
Und genau das ist auch aus meiner Sicht die Superkraft der Kultur: das Herz der Menschen zu berühren, im Herz der Menschen etwas zu hinterlassen und etwas anzustoßen.
Kultur besitzt hierbei wahnsinnig viel Macht, mehr als manche ahnen. Das kann Vorteile haben, indem Kultur gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie stärkt, die individuelle Persönlichkeitsentwicklung fördert und als "unsichtbare Brücke" Kulturen und Menschen über Grenzen hinweg miteinander verbinden kann. Aber genauso gut, kann von der Macht der Kultur auch gegenteilig Gebrauch gemacht werden. Vor allem Rechtsextreme versuchen immer wieder die Kultur zu vereinnahmen. Für sie ist die Kultur ein sehr wichtiges Mittel und Sprachrohr, um rechte und rechtsextreme Ideologien zu verbreiten.
Die Kultur ist also etwas, worauf es aufzupassen gilt. Denn der Faschismus bedeutet das Ende der Freiheit und Vielfalt der Kultur und das Ende des offenen, freien Denkens, Diskutieren und Verhandelns.
Diesen klaren Zusammenhang und die Wechselwirkung zwischen Gesellschaft, Kultur und Politik beschreibt Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates auch so: "Wenn es einer Gesellschaft schlecht geht, geht es auch der Kultur schlecht."
Schaut man auf die aktuelle Lage der Kultur in Berlin, dann geht es ihr eher schlecht als gut. Jetzt liegt es an uns die Politik aufzufordern den Wert der Kultur für Gesellschaft und Demokratie zu erkennen, die massiven Kulturkürzungen zurückzuziehen und für einen fairen Dialog einzustehen. Denn die diverse Kulturlandschaft, wie wir sie aktuell in Berlin kennen ist nicht selbstverständlich und um sie zu erhalten, müssen wir kollektiv und laut für sie kämpfen. Und nicht nur für sie, sondern auch für unsere Demokratie. Gerade jetzt! Denn in Zeiten des Rechtsrucks, in Zeiten von Krisen und Kriegen, in Zeiten, die von Unsicherheiten, Umbrüchen und Zukunftsängsten ist Kultur wichtiger denn je! Wir müssen sie als Seele unserer Gesellschaft und in ihrem riesigen, wenn auch oft schwer zu "greifbaren" Wert für uns begreifen! Sie ist das unsichtbare Band, das uns Menschen wieder mehr zusammenbringen kann. Aber es braucht uns, damit sie überleben kann! Denn, um es in den Worten des Schriftstellers Thomas Brasch zu sagen: "Kunst war nie ein Mittel, die Welt zu verändern, aber immer ein Versuch, sie zu überleben."
Mehr zum Thema Kulturkürzungen in Berlin und dem Umbruch der Kulturpolitik gibts im ALEX Kosmos.
Text, Umfrage & Bilder: Hanna Körner
Berlin demonstriert gegen Krieg in Europa. Unser Kollege Luis Schneiderhan war bei einer Soli-Demo für die Ukraine. Ein Kommentar.
Im Spätsommer 2021 hat die Zukunft am Ostkreuz ihre Kündigung erhalten. Betreiber:innen, Engagierte und die Nachbarschaft kämpfen seitdem um die kulturelle Oase zwischen Bahngleisen und Plattenbauten. Im Januar 2023 gibt es nun endlich gute Neuigkeiten.
Bunte Wände und schwarze Kritzeleien. Graffiti prägt das Stadtbild von Berlin und löst in der Gesellschaft seit Jahren eine Debatte aus.
Mit „Abbruch Abbruch“ hat die Antilopen Gang letzte Woche ihr neues Album veröffentlicht. Statt bei einer einfachen Party, hat das Rap-Trio ihren vierten Longplayer mit einem Symposium plus Konzert in der Kantine am Berghain vorgestellt. Wir waren dabei und haben Panik Panzer, Koljah und Danger Dan einen Tag später zum Interview getroffen.