Die Lage bezüglich häuslicher Gewalt in Deutschland sieht düster aus. Das zeigt nicht zuletzt das Lagebild "Häusliche Gewalt" des Bundeskriminalamts für das Jahr 2023. Das geplante neue Gewalthilfegesetz, von Lisa Paus, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf den Weg gebracht, soll die aktuelle Situation auf bundesweiter Ebene verändern. ALEX-Autorin Hanna Körner ist der Frage nachgegangen, wie die Lage beim Thema häusliche Gewalt konkret in Berlin aussieht, wo die größten Probleme liegen und was das Gewalthilfegesetz verändern kann.
Anfang September äußert sich Bundesfrauenministerin Lisa Paus in Berlin zu ihrem Entwurf des Gewalthilfegesetzes und betont seine Wichtigkeit: „Das rettet Leben“. Das Gesetz soll „allen Gewaltbetroffenen einen Schutzanspruch auf Hilfe einräumen“ und konkret „mehr Prävention und Schutzplätze für Frauen“ bereitstellen. Dieses Versprechen „für Leib und Leben der Frauen“ möchte Lisa Paus nun einlösen. Doch wie wirksam ist es wirklich?
Nua Ursprung ist seit 1 ½ Jahren Pressesprecherin der BIG-Hotline, der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen. Sie schätzt das Gewalthilfegesetz besonders wichtig für die Bundesländer wie beispielsweise Brandenburg ein, wo Frauen noch selbst finanziell für ihren Schutzplatz aufkommen müssen. Laut Grundgesetz ist es nämlich Ländersache durch den Ausbau von nötiger Infrastruktur und ausreichenden Maßnahmen für Schutz und Beratung zu sorgen: heißt auch, in jedem Bundesland unterschiedlich geregelt. Die Verbesserung läge demnach darin, einen kostenlosen Zugang zu Schutz zu gewährleisten. In Berlin werden die Schutzplätze in Frauenhäusern durch den Senat finanziert und sind dadurch kostenlos und unabhängig von dem finanziellen Status der Betroffenen. The bare minimum, aber immerhin.
Stefan Strauß, Pressesprecher der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales gibt zudem an, dass Berlin über „gute, vielfältige und innovative Angebote“ sowie Beratungsstellen, Täterkurse und Angebote für Kinder, die häusliche Gewalt miterlebt haben, verfügt. Kann sich Berlin darauf ausruhen? Wohl kaum.
Denn die Hauptstadt steht auch einer Reihe Probleme gegenüber. Neben überlasteten Beratungsstellen, dauern Verhandlungen von straffällig gewordenen Tätern in Berlin mit bis zu einem Jahr viel zu lange. Heidrun, Einrichtungsleitung der AWO Wohnungsnotfallhilfe, sieht den Grund dafür vor allem im Mangel der Richter:innen in Berlin. Ihre Kollegin Kristina ergänzt, dass es zwar Konsequenzen für straffällig gewordene Täter wie Geldstrafe, Haftstrafe, die auch in dem Beschluss des Gewaltschutzgesetzes stehen, gebe, diese jedoch in ihrer Umsetzung oft auf der Strecke blieben. Die zweiköpfige Einrichtungsleitung der AWO-Wohnungsnotfallhilfe berichtet von Fällen, in denen es sich für betroffene Frauen oft „so anfühlt, als passiere nichts.“
Zudem gibt es in Berlin nach Aussage von Nua Ursprung nur gut die Hälfte der Schutzplätze, als eigentlich benötigt. Im September 2024 haben 839 Personen bei der BIG-Hotline angerufen, 364 Personen davon haben einen Schutzplatz gesucht.
Gut zwei Drittel der Personen, die bei der BIG-Hotline anrufen und einen Schutzplatz brauchen, kann laut Ursprung nicht direkt ein Platz vermittelt werden. Auch Kristina sieht vor allem einen Mangel bei Fällen, wo eine akute Hilfe notwendig ist, „also dieses Jetzt anrufen und direkt einen Platz kriegen.“ Wartelisten gibt es in Berlin in der Form keine. Es liegt an den Betroffenen jeden Tag anzurufen und nachzufragen, ob ein Platz frei wurde. Diesen dann zu bekommen, ist laut Nua Ursprung und der AWO-Einrichtungsleitung „Glückssache!“.
Doch nicht nur. Eine Reihe von Betroffenen sehen sich nochmal erschwerteren Bedingungen ausgesetzt als ohnehin schon oder fallen gänzlich durch das System. Das gilt bei der Suche nach einem Schutzplatz in einem Frauenhaus wie auch der evtl. daran anschließenden Aufnahme in Zufluchtswohnungen oder Wohnungsnotfallhilfe.
Neben Transfrauen, Betroffenen mit unsicherem Aufenthaltstitel, mit starken psychischen oder akuten Suchterkrankungen, haben es auch Betroffene mit körperlichen Behinderungen besonders schwer. Die Strukturen sind laut Nua Ursprung ganz oft noch nicht gut darauf ausgerichtet, „der Großteil der Frauenhäuser ist nicht barrierearm“. Dabei erleben gerade Frauen mit Behinderungen in besonders hohem Maße Gewalt, auch häusliche Gewalt. Von dem im Gewalthilfegesetz vorgesehenen barriereärmeren Zugang zu Schutz, könnte laut Nua Ursprung demnach auch Berlin stark profitieren.
Ein besonders großes Problem stellt auch die Unterbringung von betroffenen Frauen oder Familien mit vier oder mehr Kindern dar, gerade in Berlin. Die AWO-Einrichtungsleitung gibt an, dass es einen „sehr sehr großen Bedarf an Plätzen für Frauen mit vielen Kindern“ gibt, wobei die räumlichen Kapazitäten oft nicht ausreichen. Ihre Zusammenarbeit mit ASAP, einer Wohnungsvermittlung für Frauen aus Gewaltsituationen, sei hierbei sehr hilfreich. Trotzdem bleibt laut ihr grundsätzlich ein Versorgungssystem, das nicht auf Frauen oder Familien mit vielen Kindern eingestellt ist. Mehr Schutzplätze und ein erleichterter Zugang zu Schutzplätzen durch das Gewalthilfegesetz wären laut Nua Ursprung wünschenswert und wichtig. Doch sieht sie in dem Gewalthilfegesetz „nur das Pflaster auf die Wunde“.
Denn eine noch viel größere Problematik und einen klaren Mangel sehen Nua Ursprung wie auch die Einrichtungsleitung der AWO in den wenigen Hilfsangeboten für Männer und den unzureichenden Ressourcen, Täter davon abzuhalten Täter zu werden. Hierbei kritisieren alle drei Frauen das Gewalthilfegesetz, welches zwar den Ausbau von Täterkursen als eine Maßnahme vorsieht, sich aber immer noch vorrangig und zu stark auf den Ausbau der Opferarbeit wie auf Hilfs- und Schutzangebote für Frauen konzentriert. So betont Nua Ursprung: "Es wird das Problem offensichtlich nicht endgültig lösen, solange wir nicht auch Täterarbeit machen".
Auch für Heidrun bedeutet mehr Geld und mehr Frauenhäuser nicht die alleinige Lösung. Sie fordert: "Es muss eine Weiterentwicklung geben in diesem Thema. Wir können nicht immer das gleiche erzählen, was wir schon vor 30 Jahren erzählt haben und es trifft einfach nicht zu." Was ihr fehlt, auch im Gewalthilfegesetz, ist der familiensystemische Blick, die strukturelle Arbeit in der Familie. Was sind die Ursachen für die Gewalt, woher kommt das?
Darüber müsse viel mehr gesprochen werden. Auch Nua Ursprung bemängelt die bisher fast gänzlich fehlende Rehabilitierung von auch straffällig gewordenen Tätern. Es müsse gesellschaftlich viel mehr mit Tätern an dem Menschenbild und ihrem eigenen Selbstbild gearbeitet werden, damit sich die Taten nicht wiederholen.
Auch unabhängig von der konkreten Täterarbeit ist gesamtgesellschaftlich noch "super viel zu tun", da sind sich Nua Ursprung wie die AWO-Leitung einig. Denn "häusliche Gewalt ist kein Beziehungsdrama, sondern hat immer etwas mit Macht und Kontrolle zu tun," so Nua Ursprung. Dieses Feld wird zwar gerade angefangen zu diskutieren, aber ist lange noch nicht dekonstruiert. Ihre Forderung: "Gesamtgesellschaftlich braucht es offensichtlich noch mehr Feminismus".
Insgesamt müsse man das Thema in einem größeren Rahmen sehen, so die AWO-Einrichtungsleitung. Mehr allumfassende systemische Arbeit und Täterarbeit, auch im Gewalthilfegesetz, könnten dabei auch die Frauenhäuser entlasten. Dabei sieht sie auch die Frauenhäuser in der Verantwortung keine Rollenzuschreibungen vorzunehmen, indem sie die Söhne von betroffenen Frauen teilweise nur bis zum 12. oder 14. Lebensjahr mit aufnehmen. Sie warnt davor, junge Männer dort herauszunehmen, wodurch schnell ein Schwarz-Weiß-Denken entstehe.
Trotz des ausbaufähigen Gewalthilfegesetzes sieht Nua Ursprung Chancen. "Der Wille ist da." Das Gewalthilfegesetz ist geschrieben, der Entwurf in Ordnung. Jetzt sei die Bundesregierung, vor allem am Finanzministerium, wo das Gesetz gerade festhängt, am Zug: "Geld rausrücken, um die Maßnahmen, die sie sich überlegt haben, auch tatsächlich umzusetzen."
Denn das Risiko ist groß, dass sich das Gewalthilfegesetz als ein nur weiteres Glied an die lange Kette nicht wirksamer Maßnahmen bezüglich häuslicher Gewalt einreiht. So greift die Istanbul-Konvention, zu der sich Deutschland 2018 verpflichtet hat und die den Rechtsanspruch auf Beratung und Schutz flächendeckend garantieren soll, in der Umsetzung durch fehlende Schutzplätze und dem oft hochschwelligen Zugang zu Schutz auch 7 Jahre später noch nicht. Auch der seit dem Herbst 2023 bestehende Landesaktionsplan, Berlins Version der Istanbul-Konvention, steht zwar, aber ist noch nicht mit konkreten finanziellen Mitteln versehen. Und auch die multiinstitutionellen Fallkonferenzen, die dem Schutz von hochgefährdeten Frauen dienen und dabei helfen sollen, Femizide zu verhindern, scheitern in Berlin aktuell am Datenschutz.
Kein Wunder also, dass die Euphorie seitens der AWO-Einrichtungsleitung bezüglich der Umsetzung des neuen Gewalthilfegesetzes eher gedämpft ist, welches kommendes Jahr verabschiedet und 2030 in Kraft treten soll. Damit das Ziel einer wirklichen Veränderung der Lage beim Thema häusliche und geschlechtsspezifischer Gewalt in Berlin wie deutschlandweit durch das Gewalthilfegesetz nicht ausbleibt, muss nicht nur seine gänzliche Finanzierung sichergestellt werden, sondern auch beim Thema Gewaltprävention und Täterarbeit dringend nachgebessert werden.
Der Ausbau von Schutz- und Hilfeangeboten sowie ein niedrigschwelliger Zugang zu Schutz für Betroffene ist wichtig, doch bekämpft nur das Symptom des Problems. Es muss viel mehr systematisch an der Wurzel des Problems angesetzt werden und allumfassend die Gesamtgesellschaft einbezogen werden, um wie auch Nua Ursprung sagt, die patriarchalen Strukturen zu durchbrechen. Denn häusliche Gewalt ist keine Privatsache, sondern betrifft Alle.
Bei akuter häuslicher Gewalt rufen Sie bitte die Polizei: 110
Text & Interview: Hanna Körner, Bilder: Hanna Körner & Pexels
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