Seit Dezember 2024 steht fest: Berlins Kulturszene muss bluten. Und zwar kein Theaterblut, sondern Geld. Berlin muss sparen und das bedeutet für Kunst- und Kulturschaffende rund 12% geringere Zuschüsse. ALEX Berlin-Redakteurin Ronja Baudisch trifft Oliver Reese, Intendant des Berliner Ensembles und fragt: Was jetzt?
Kisten falten, Zeitungen austragen oder einen Flohmarkt veranstalten – so hat Oliver Reese sich als Kind in den Sommerferien sein Taschengeld aufgestockt. Heute ist er Intendant des Berliner Ensembles. Das Theater an der Spree ist aus der Berliner Kulturszene nicht mehr wegzudenken.
Heute sitzt Reese nicht mehr auf der Schulbank, sondern an einem Tisch, der die Verantwortung für ein ganzes Theater mit sich bringt. Und trotzdem ist der Intendant wieder dazu gezwungen, kreative Wege zu finden, um etwas Geld dazuzuverdienen. Bloß dieses Taschengeld wird nicht für Gummischlangen am Späti um die Ecke ausgegeben, sondern sichert das Überleben einer Kulturstätte. Und damit Arbeitsplätze, Kulturschaffende und die Möglichkeit, dem Alltag für einen Moment in die Welt der Kunst zu entfliehen.
Denn mit dem Beschluss des Berliner Parlaments vom 19.12.2024 steht fest: Der Berliner Landesetat wird um drei Milliarden Euro gekürzt. Für das Berliner Ensemble bedeutet das eine Millionen Euro geringere Zuschüsse im Jahr 2025. Bürgermeister Kai Wegner (CDU) wendete sich in seiner Erklärung an das Parlament mit einer Forderung an die Berliner:innen in Kunst und Kultur: „Wir brauchen auch heute Veränderungen. Wir brauchen einen Mentalitätswechsel. Wir brauchen mehr Wirtschaftlichkeit und Eigenverantwortung.“ Aber Wirtschaftlichkeit und Kultur, die für alle zugänglich sein soll – wie passt das zusammen? Wegner schließt seine Rede an diesem Donnerstag mit den folgenden Worten: „Berlin ist die Stadt der Chancen. Lassen Sie uns diese Chancen gemeinsam nutzen. Dafür bitte ich um Ihre Unterstützung, um Ihr Vertrauen. Für Berlin!“. Für Kunst- und Kulturinstitutionen in Berlin steht fest: Vertrauen reicht nicht. Um für die fehlenden Zuschüsse aufzukommen, müssen sie sich selbst überlegen, was mit diesen Chancen gemeint sein könnte. Und zwar sofort.
Nun ist das Berliner Ensemble als großes Theater besser dran als die kleinen Fische im Kulturbecken der Hauptstadt. Mit über 1.000 Veranstaltungen im Jahr 2024 und einer Platzausnutzung von 95% generiert das Berliner Ensemble einen Großteil seiner Einnahmen selbst und ist dadurch nicht so sehr auf die Zuschüsse des Landes angewiesen, wie kleinere Einrichtungen. Trotzdem: Die Kürzungen kamen plötzlich und diese eine Millionen Euro weniger müssen aufgefangen werden.
Zum neuen Jahr erhöht das Ensemble die Ticketpreise. In Zukunft sollen außerdem Proben öffentlich gemacht werden: „Voraufführung statt Proben. Wir proben kürzer nur für uns und lassen das Publikum eher zuschauen, um noch mehr Besucher zu erreichen“, sagt Reese. Doch die Forderung der Politik, wirtschaftlicher zu denken, stößt den Kunstschaffenden sauer auf. „Wir wollen ja nicht nur Mainstream machen. Das Theater auf eine einfache Weise vollmachen, das ist gar nicht schwer. Dann spielen wir nur die Hitliste der Klassiker rauf und runter, gucken, was auf den Abiplänen steht, damit die ganzen Schulgruppen kommen. Das wäre leicht.“
Stattdessen setzt das Berliner Ensemble auf aktuelle Projekte, bei denen Schauspieler:innen ihre eigenen Ideen und die politische Agenda auf die Bühne bringen. „So erreicht man auch neue und junge Publikumsschichten, was natürlich für ein Theater, was sich auch für die Zukunft, also für die next generation, neu aufstellen will, essenziell ist“, schlussfolgert Reese. So kämpft Sina Martens als Britney Spears um Selbstbestimmung, Sophie Passmann erklärt, warum sie ein Pick Me Girl ist und Claude de Demo dekonstruiert das idealisierte Bild von Mutterschaft mit ihren persönlichen, wütend-ehrlichen Erfahrungen. Und es funktioniert: Das Publikum ist jung, füllt die 100. Vorstellung und verlässt den Saal mit einer gerührten Träne im Augenwinkel.
Doch der Schock sitzt immer noch tief. Und direkt daneben: Ein empörter Trotz. Deshalb wird das Theater auch abseits der Bühne kreativ. Als ein Wasserschaden im April 2024 den größten Bühnenboden des Theaters zerstört, hat Reese eine Idee. Er lädt den Künstler Christoph Niemann ein, die Kantine neu zu gestalten. Und das mit einem besonderen Wandbeschlag: Der alte Bühnenboden. Die übrigen Boden-Reste verwandelt Niemann in Porträts von Helene Weigel und Berthold Brecht und schenkt sie dem Theater. Innerhalb von einem Tag sind die Kunstwerke ausverkauft und ein paar tausend Euro zusammengekommen.
Im Januar taucht dann eine einmalige Versteigerung im Internet auf: Eine „Nacht auf den Brettern, die die Welt bedeuten“, inklusive Theaterbesuch, Gute-Nacht-Gedicht und Frühstück mit Oliver Reese. Ein theaterbegeistertes Ehepaar ersteigert diese besondere Übernachtung für 1.500 Euro.
Ob das die fehlende Million ausbügelt? Nein. Ob das eine Trotzreaktion war? Ja. Und: Die Aktion stößt einen riesigen Diskurs an. Medien aus aller Welt berichten über den Hilferuf und damit auch über die Lage, in der sich Berlins Kultur befindet. Reese dazu: „Wenn es gut geht, machen wir Dinge, die auf der Grenze von Performance, Protestaktion und Kommunikation balancieren. Wir müssen andere erreichen, zum Beispiel über Social Media. Solche Aktionen versenden sich in Portale, die normalerweise im klassischen Feuilleton nicht unterwegs wären.“
Für 2025 ist Reese zuversichtlich, das Geld wird reichen. Zumindest dem Berliner Ensemble. Sorgen macht er sich trotzdem: „Das wirklich Bedenkliche ist: Nach den Kürzungen ist vor den Kürzungen. 2025 müssen wir jetzt diese Millionen verkraften, aber 2026 sieht es möglicherweise nicht besser aus. Und immer mit dem Rasenmäher über die Berliner Kulturszene fahren – da wird dann irgendwann auch mal Blut fließen und der Grasfangsack voll sein.“
An anderen Stellen fließt schon jetzt Blut: Die Schaubühne muss eine Spielstätte schließen und fürchtet trotz einer Auslastung von 99,9 Prozent die Insolvenz zum Ende des Jahres. Theater wie die Volksbühne, die komische Oper und die Compagnie Sasha Waltz and Guests müssen ganze Produktionen streichen. Und damit auch: Arbeitsplätze und ein Stück der Vielfalt, die Berlin ausmacht.
Interviews & Text: Ronja Baudisch Bilder: Berliner Ensemble/ Nico Lenz, Berliner Ensemble/ Moritz Haase, Ronja Baudisch
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