Bunte Wände und schwarze Kritzeleien. Graffiti prägt das Stadtbild von Berlin und löst in der Gesellschaft seit Jahren eine Debatte aus.
Berlin ist schmutzig und schön. Wer Berlin kennt weiß, dass genau in diesem Gegensatz das Besondere an unserer Hauptstadt liegt. Nicht viele Städte auf der Welt sind kulturell und visuell so vielfältig. Von Neukölln über Kreuzberg nach Mitte und Reinickendorf: Berliner Bezirke sind sehr verschieden und vermitteln alle ihr eigenes Stadtbild. Wenn man ein paar Stationen mit der U-Bahn fährt kann man in einer völlig anderen Gegend landen, ohne dabei die Stadt zu verlassen.
Was einen dabei immer begleitet ist etwas, das nicht allen Menschen bewusst ist: Graffiti. Ob in den teuren Wohngebieten wie Zehlendorf und Mitte oder in den eher bezahlbaren Bezirken wie Neukölln und Marzahn, überall findet man Graffitis in verschiedensten Formen. Die Malereien befinden sich an Hauswänden, Bahnen, Autos, Stromkästen und in den Toiletten der Bars – also an so ziemlich allen Objekten und Orten der Stadt. Berlin ohne Graffiti ist wie Winter ohne Schnee: Irgendwas fehlt.
In Berlin wächst man unausweichlich mit Graffiti auf. Auch wenn einige Menschen es bewusster wahrnehmen als andere, fast jede*r hat eine Meinung dazu. Diejenigen, die Graffiti als Kunst sehen, erfreuen sich meistens an der farbigen Gestaltung des öffentlichen Raums, während andere es als Vandalismus bezeichnen und sich darüber ärgern.
Legales Graffiti ist meist Auftragsarbeit, die bezahlt wird und vertraglich geregelt ist. Außerdem gibt es einige Wände in Berlin, wo legal gemalt werden darf. Illegales Graffiti hingegen ist alles was nicht vorher abgesprochen war oder nicht an dafür vorgesehenen Orten erscheint. Jede noch so kleine Kritzelei an öffentlichem oder privatem Raum gilt als Sachbeschädigung. Rechtlich gesehen sind die Regeln also ziemlich genau festgelegt, wann etwas als Straftat gilt. Und doch gibt es fließende Grenzen zwischen legalem und illegalem Graffiti: Meist haben legale Graffitikünstler*innen mit illegalem Graffiti angefangen.
Besonders Graffiti mit Spraydosen ist eine Kunst und erfordert viel Übung. Und wo wird geübt? Eher weniger an den eigenen Zimmerwänden oder an legalen Wänden, wo einem die Profis auf die Finger schauen. Es wird anonym getan und so müssen illegale Objekte herhalten. Illegales Graffiti prägt das Stadtbild Berlins am meisten und ist Auslöser für den Streitpunkt in der Gesellschaft.
Ob Graffiti Kunst oder Vandalismus ist, lässt sich so einfach nicht beantworten. Es kann ein wunderschönes Bild mit Spraydosen an einer Hauswand entstehen, welches keinen Zweifel an künstlerischer Ästhetik lässt, das trotzdem, sofern es sich um ein illegales Graffiti handelt, vor dem Gesetz als Straftat gilt. Dann liegt es an den Eigentümer*innen des Hauses zu entscheiden, ob das Graffiti entfernt wird und die Beschmutzung zur Anzeige gebracht wird oder nicht. Dasselbe Graffiti kann im Falle einer legalen Auftragsarbeit entstehen und wird dann offiziell als Kunstwerk angesehen. Es geht also um Eigentum, um Besitz. Und Menschen ärgern sich, wenn ihr Eigentum beschädigt wird. Es stellt sich also die Frage: Wer darf den öffentlichen Raum gestalten und wer nicht? Werbung beispielsweise überflutet uns in allen Medien und an allen Orten der Stadt. Die Werbeindustrie kauft sich ihre Rechte. Das ist für uns normal, da es legal und offiziell ist. Aber wenn der öffentliche Raum nur noch durch kommerziellen Wettbewerb gestaltet wird, verformt sich das Stadtbild und Berlins einzigartige, urbane Kultur ist gefährdet.
Der entscheidende Faktor in unserer kapitalistischen Weltordnung ist Geld und die Umwandlung von Geld zu Eigentum. Wer sich eine Werbefläche leisten kann, darf den öffentlichen Raum gestalten. Graffiti bricht mit dieser Ordnung. Es wird politisch, allein dadurch, dass es da ist. Eigentum wird einfach bemalt, meist Eigentum vom Staat oder von Großunternehmen. U-Bahnen, Kaufhäuser oder Bankgebäude sind sehr beliebte Ziele für Sprayer*innen, da sie symbolisch für die kapitalistischen Machtgefüge der Gesellschaft stehen. Graffiti kann Menschen eine Stimme geben, die sonst keine haben. Der aus Brasilien stammende Pichação-Style zum Beispiel wird von Künstlern wie IKARUS oder PARADOX (ehemals Berlin Kidz) adaptiert, um auf Missstände in der Gesellschaft zu verweisen.
Es gibt zahlreiche Graffitis die gezielt politische Interessen vermitteln und auf Missstände in der Welt hinweisen. Zum Beispiel hat die Crew 1UP mit ihrer #LEAVENOONEBEHIND-Kampagne ein Statement zur aktuellen Flüchtlingskrise und damit gegen Faschismus und die gescheiterte Politik zahlreicher Länder gesetzt. Auch zur Black Lives Matter-Thematik, die durch die Tötung von George Floyd im Mai 2020 an gesellschaftlicher Relevanz gewann, finden sich in Berlin einige Graffitis mit dem Schriftzug „I can‘t breathe“.
Welche Menschen ziehen in Berlin umher und sprayen Wände und andere Objekte an? Der Großteil der Bevölkerung würde wahrscheinlich an junge Leute denken, die keinen Job und nichts Besseres zu tun haben, als fremdes Eigentum zu beschmieren. Aber entspricht das der Realität?
Lara ist Mitglied einer der bekanntesten Crews in Berlin und ich habe mit ihr über die Szene gesprochen. Sie sagt es gäbe natürlich auch genau solche Sprayer*innen, aber das ist ihrer Erfahrung nach nicht der Großteil. Die Szene sei sehr durchmischt so Lara. „Es sind ganz normale Leute, mit festem Job und Familie – Da sind Lehrer, Grafikdesigner, Unternehmer oder Studenten zusammen unterwegs“. Es seien auch ältere Menschen Teil der Szene – was sie verbindet ist ihre Leidenschaft.
Und Welche Motivation steckt dahinter? Oft geht es schlicht darum, den Namen der Sprayer*innen oder der Crew zu verbreiten. Ein Gebiet in der Stadt wird markiert und die Bekanntheit wächst. „Das ist eine von Grund auf egoistische Motivation“ so Lara. Aber es geht nicht nur darum, es ist das ganze Drumherum: Die Planung der Aktion, das Gemeinschaftsgefühl, der Nervenkitzel, das Entdecken neuer Orte und in gewisser Weise eben die Illegalität. Lara beschreibt es wie eine Art Sucht nach der „Action“. Viele Sprayer*innen entwickeln so eine zweite Identität: Die Grundschullehrerin, die in ihrer Freizeit illegal Bahnen besprüht, ist nicht unbedingt daran interessiert es ihren Arbeitskolleg*innen zu erzählen. Es wird verheimlicht und nur sehr eng vertrauten Menschen, meist auch Mitgliedern der Graffitiszene mitgeteilt. Bei Lara wissen nicht viele Leute, dass sie in der Szene ist – nicht einmal ihre Eltern. Die Szene bleibt im Untergrund und ist für Außenstehende nicht leicht zu erschließen.
Der finanzielle Schaden, der durch illegales Graffiti in Berlin entsteht, ist groß. Er ist schwer schätzbar, liegt aber im Millionenbereich. Besonders stark betroffen sind die öffentlichen Verkehrsbetriebe. Der Pressesprecher der BVG Jannes Schwentu sagt:
„Den größten Schaden hat am Ende leider immer der Fahrgast. Und dass nicht nur, weil Teile der Fahrkartenerlöse zur Graffiti- und Vandalismusbeseitigung herhalten müssen. Sondern natürlich auch dann, wenn ein Zug wegen der notwendigen Schadensbeseitigung in die Werkstatt muss und damit im Betrieb fehlt“
Jannes Schwentu
Dadurch sind allein 2019 bei der U-Bahn 58.000 Nutzungskilometer ausgefallen. In der aktuellen Corona-Zeit finden wir Graffiti an U-Bahnen besonders oft. Nahezu jede U-Bahn fährt einen Schriftzug durch die Gegend. Im März 2020 musste die BVG 666 beschädigte Wagen verbuchen. Hinzu kommen die Steuergelder, die für die polizeiliche Strafverfolgung der Graffitisprayer*innen entstehen.
Wie das aktuelle Stadtbild Berlins zeigt, sind die Maßnahmen gegen die Graffitiszene weit davon entfernt Graffiti aus Berlin zu verbannen. Die Säuberungen der öffentlichen Verkehrsbetriebe und die strafrechtlichen Verfolgungen der Polizei wirken eher wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Werden einige Anhänger*innen der Szene gefasst und verurteilt, kommen andere und nehmen diesen Platz wieder ein. Fraglich bleibt, wie die Stadt aussähe, wenn Graffiti legalisiert würde. Lara findet die Strafverfolgung der Polizei sei „Zeit- und Geldverschwendung, da es so viel Wichtigeres gibt, wofür man die Polizei wirklich bräuchte“. Denn Aufhalten könne man die Szene so nicht, da das Risiko von den Mitgliedern in Kauf genommen wird.
Graffitis sind für viele Menschen ästhetisch gesehen nicht unbedingt ansehnlich, aber Kunst ist eben Geschmackssache und muss nicht immer schön sein. Eins steht fest: Graffiti zeugt von Leben in einer Großstadt. Man könnte es vielleicht als moderne Höhlenmalerei bezeichnen.
Wer sich für diese Kunstform interessiert hat in Berlin viele Möglichkeiten, denn es gibt hier regelmäßig Kunstausstellungen die Graffiti thematisieren: Beispielsweise die Ausstellung „Martha Cooper: Taking Pictures“ im URBAN NATION (Oktober 2020), die Ausstellung „PARADOX X CPT.OLF 16-19“ in der Urban Spree Galerie (Oktober 2019 ) oder die temporäre Kunstgalerie „The Haus“ im April 2017. Das zeigt, dass Graffiti in der Berliner Kunstszene bereits lange angekommen ist und somit auch in unserer Gesellschaft, als Teil der Stadtkultur, existiert.
Text: Alexander Peise | Fotos: AXJ
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