Gesellschaft im Wandel – wie Altersarmut uns alle betrifft

Unsere Gesellschaft wird älter, das Rentensystem bröckelt. Es wird höchste Zeit, über unsere Altersvorsorge nachzudenken. Doch es ist nicht so, als stünden uns alle Probleme erst bevor. Armut im Alter ist bereits heute für viele Menschen eine schmerzliche Tatsache. ALEX-Redakteurin Ella Arens hat sich mit dem Thema auseinandergesetzt und verschiedene Menschen dazu befragt. Es geht um finanzielle Emanzipation, politische Verantwortung, gesellschaftlichen Zusammenhalt und die bittere Erfahrung dessen, wie es ist, im Alter arm zu sein.

Was bedeutet arm sein?

Was bedeutet Altersarmut eigentlich und wann gilt man als arm oder armutsgefährdet? Letzteres ist von EU-Richtlinien festgelegt. Als armutsgefährdet gilt jemand, dessen Einkommen weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens beträgt. Das Medianeinkommen ist der mittlere Wert aller Nettoäquivalenzeinkommen in Deutschland. Nettoäquivalenzeinkommen ist wiederum das Geld, über das ein Haushalt unter Berücksichtigung seiner Mitglieder und deren Alter verfügt. Armutsgefährdet ist also jemand, der im Wesentlichen von weniger als der Hälfte dessen lebt, was Deutsche durchschnittlich im Alltag zur Verfügung haben. Konkret heißt das: Wer als Alleinstehende:r pro Jahr weniger als 13.628 Euro zur Verfügung hat, ist von Armut bedroht. Das sind ca. 1.135 Euro im Monat. Im Jahr 2022 waren rund 18 Prozent der über 65-Jährigen von Armut bedroht, so das Statistische Bundesamt.

Doch Armut ist nicht nur eine Frage des Einkommens, sondern auch der Lebensqualität. Sie zeigt sich in mangelnder sozialer Teilhabe, schlechterer Gesundheitsversorgung oder eingeschränkten Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung. Besonders dramatisch ist dies im Alter, weil die Menschen nicht mehr die gleichen Möglichkeiten haben, sich aus dieser Armut zu befreien, wie Jüngere. Zusätzlich müssen sie zusehen, wie ihre sozialen Netzwerke schrumpfen.

Altersarmut statt rosiger Ruhestand

Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, als junger Mensch denkt man nicht viel über die Rente nach. Und wenn, dann träumt man vom Reisen, Gärtnern oder dem Haus in der Toskana. Man hat doch dann endlich mal Zeit für seine Hobbies, oder? Der Gedanke, es könnte einem im Alter finanziell so schlecht gehen, dass all diese Dinge unmöglich werden, kommt eher selten in den Sinn, wenn überhaupt. Doch, so alarmierend es klingen mag, Altersarmut kann jede:n treffen. Auch die, die es am wenigsten erwarten. Selbst wenn man sich ein Leben lang finanziell abgesichert gefühlt hat, die schleichende Entwicklung der Armutsgefährdung im Alter kann überraschen.

Altersarmut betrifft nicht nur Menschen, die aufgrund von unvorhersehbaren Ereignissen wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit in finanzielle Nöte geraten. Es gibt verschiedene Gründe, die die finanzielle Situation im Alter negativ beeinflussen können. Zum Beispiel Unregelmäßigkeiten im Arbeitsverhältnis. Durch Arbeitslosigkeit, Krankheit oder die Pflege von Familienangehörigen können schnell Lücken in der Beschäftigung entstehen. Außerdem sorgen Jobs mit geringer Bezahlung wie auch Minijobs, die nicht in die Rentenversicherung einzahlen, für eine niedrige Rente. Auch die Selbstständigkeit, die einen in Deutschland von der Rentenversicherungspflicht befreit, kann zum Verhängnis werden, weil während der Erwerbsfähigkeit nicht genug angespart wurde. Nicht zuletzt tragen auch unangemeldete Arbeitsverhältnisse zur Altersarmut bei.

Der neunte Altersbericht der Bundesregierung, veröffentlicht am 8. Januar 2025, unterstreicht wieder einmal die Ambivalenz der Lebensrealitäten von Seniorinnen und Senioren in Deutschland. Die höchsten durchschnittlichen Alterseinkommen erzielen verheiratete westdeutsche Männer ohne Migrationsgeschichte und mit deutscher Staatsangehörigkeit. Die niedrigsten durchschnittlichen Alterseinkommen beziehen alleinstehende Frauen mit Migrationsgeschichte. Es besteht ein erheblicher Unterschied zwischen Rentenniveaus in west- und ostdeutschen Regionen und auch alleinerziehende Mütter sind besonders gefährdet.

Frauen sind von Altersarmut stärker betroffen

Frauen, wie vom Statistischen Bundesamt definiert, sind generell unverhältnismäßig stärker von Altersarmut bedroht als Männer. Während 20,8 Prozent aller über 65-jährigen Frauen in Deutschland von Armut bedroht sind, sind es unter den Männern nur 15,8 Prozent. Ohne die Hinterbliebenenrente liegt die Durchschnittsrente von Frauen sogar fast 40 Prozent unter der der Männer. Somit ist jede fünfte Frau ab 65 Jahren armutsgefährdet. Die oben genannten möglichen Gründe, die für eine geringe Rente sorgen können, treffen wesentlich öfter auf Frauen zu als auf Männer. So wird zum Beispiel die Pflege von Familienangehörigen zu 70 Prozent von Frauen übernommen. Weiterführend gibt es zahlreiche Gründe, die Frauen höhere Endgeldgruppen im Erwerbsleben verwehren und für eine geringe Rente prädestinieren.

Jemand, der sehr genau über die Gefahren der Altersarmut insbesondere bei Frauen Bescheid weiß, ist Helma Sick. Die 84-jährige Betriebswirtin hat es sich zur Aufgabe gemacht, Frauen über eine mögliche Armutsbedrohung im Alter zu informieren und sie wehrhaft zu machen. 1987 gründete sie eine Frauenfinanzberatung, war Geschäftsführerin des ersten Bayrischen Frauenhauses und setzt sich nun seit über 30 Jahren für die finanzielle Emanzipation ein.

Helma Sick

Sie gilt als die Finanzexpertin für Frauen: Autorin und Referentin Helma Sick

Ich habe sie gefragt, was die größten Fallen sind, die sich Frauen im Laufe ihres Lebens stellen und wie man sie umgehen kann.

"Ich sage immer: Freuen Sie sich über Ihre Partnerschaft, aber bleiben Sie unabhängig."

Helma Sick ist besonders wichtig, dass Frauen die wirtschaftlichen Folgen bestimmter Lebensentscheidungen bewusst sind. Junge, emanzipierte Paare laufen oft Gefahr, nach der Geburt des ersten Kindes doch in alte Rollenmuster zurückzufallen: Die Frau bleibt beim Kind oder arbeitet jahrelang in Teilzeit. Sofern sich die Elternzeit nicht geteilt werden kann oder will, muss die Person, die weiterarbeitet, die Rentenlücke der anderen mit einem Sparplan auffüllen, so Helma Sick. Sie will Frauen darin bestärken, diese Leistung von ihrem Partner auch einzufordern: "Für mich ist finanzielle Unabhängigkeit die Basis der Emanzipation.“

Scham, Reue, Stress - Das ist Armut im Alter

Sich als nicht betroffene Person eine Vorstellung von dem Gefühl von Armut und insbesondere Armut im Alter zu verschaffen, ist schwer. Zahlen und Fakten wirken zwar erdrückend, schaffen es aber nicht mal annähernd, die Realitäten der Altersarmut zu illustrieren. Deswegen spreche ich mit Anne Fritzsche, Koordinatorin des Seniorenzentrums in Friedrichshain, und Tom Schmid, Rentner und Ehrenamtlicher, dessen richtigen Namen er lieber nicht nennen will.

Tom erzählt mir von seiner Vergangenheit, wie er mit seinen drei besten Freunden knapp drei Jahrzehnte in Berlin glücklich „verlebte“. Wie er erst im Reisebüro, dann als Krankenpfleger und schließlich im Gesundheitswesen arbeitete. Und wie ihn dann ein Burnout mit 57 in die Arbeitslosigkeit verschlug: "Ich müsste mir meine Gesundheit kaufen, was ich nicht kann. Das bereue ich sehr."

Jetzt bekommt Tom 1050 Euro Rente im Monat, davon bleiben grob 350 zum Leben übrig. In die Lebensversicherung, die er auf beharrliches Drängen der Eltern widerwillig abgeschlossen hatte, zahlte er wohl 500 Mark ein, zum Renteneintritt bekam er 1350 Euro zurück. „Ein schönes Weihnachtsgeschenk, umso schmerzhafter war mir der Gedanke, es hätten 50.000 sein sollen“, so Tom. "Ich kann nicht mehr verreisen. Ich wollte im Dezember nach Hamburg auf den Weihnachtsmarkt – hat nicht gereicht. Das tut weh."

Als Sozialarbeiterin und Projektleiterin organisiert Anne Fritzsche Zusammenkünfte aller Art, zum Beispiel das tägliche Seniorencafé, Handarbeitskurse und Beratungen.

Zeit für Kaffeeklatsch: Das Seniorenzentrum im Friedrichshain

"Es ist schwer an die, die wirklich einsam sind, heranzukommen."

Hier sind sich beide einig: Die Einsamkeit ist das größte Laster der alten, von Armut bedrohten Menschen. Im Seniorencafé kostet ein Kaffee 80 Cent, ein Stück Kuchen 1,20 Euro. Niemand soll des Geldes wegen ausgeschlossen sein. Und doch nehmen viele Menschen das Angebot nicht an. Gründe dafür sind Berührungsängste, Scham, aber auch das Gefühl, „da gehöre ich noch nicht dazu“. Es kostete Tom, wie vielen anderen, große Überwindung, sich den Status des Rentners einzugestehen. Den größten Zuwachs bekommt das Zentrum über Mund-zu-Mund-Propaganda, die Besucher:innen werden dazu ermutigt, auch ihre Freund:innen oder Nachbar:innen anzusprechen und mitzubringen.

Auch spreche ich mit den beiden über die Scham. Denn es ist oft nicht die Geldnot allein, die den Menschen zu schaffen macht. Die Armut im Alter wird teils als sehr schamvoll empfunden. Schätzungsweise nehmen 60 Prozent derjenigen, die einen Anspruch auf Grundsicherung haben, diesen nicht wahr. Anne Fritzsche erzählt von einem Mann, der lieber Zeitungen austrug, als Sozialhilfe zu beantragen.

 

"Es ist nicht nur Scham, es ist auch der Stress."

"Verschiedene Formulare, unzählige Nachweise, komplizierte Vorgänge. Für manche Menschen sind das riesige Hürden." Anne Fritzsche weiß, ein soziales Umfeld, Beratung und eine Bezugsperson sind das, was die Menschen am meisten brauchen. Sie ist oft selbst überrascht, wie schnell sie zur Person des Vertrauens wird.

Anne Fritsche, Sozialarbeiterin und Projektleiterin im Seniorenzentrum Friedrichshain

Tom hat sich mit seiner geringen Rente arrangiert. Darüber hinaus betont er, wie wichtig die positive Lebenseinstellung und ein soziales Umfeld ist. Erst nach dem zehnten Mal vorbeilaufen habe er sich in Anne Fritzsches Seniorencafé getraut, jetzt ist er unheimlich dankbar für den Rückhalt.

Umdenken und Anpassen: Zusammenarbeit der Generationen

Fest steht also: Unsere Gesellschaft wird älter, wir werden älter. Armut im Alter zeigt sich nicht nur in finanziellen Engpässen, sondern auch in sozialer Isolation und eingeschränkter Lebensqualität. Besonders wichtig ist es für Frauen und andere marginalisierte Gruppen, ihre Altersvorsorge bereits im Erwerbsleben mitzudenken.

In einer alternden Gesellschaft wie der unseren, darf das Leben nach dem Renteneintritt doch nicht noch mühseliger werden als es eh schon war. Es bedarf eines positiven Altersbildes und einer regen Zusammenarbeit der Generationen, die die Potentiale der Älteren deutlich macht, sie unterstützt und inkludiert. Das Land Brandenburg hat als sichtbares Zeichen dafür seit 2020 mit Norman Asmus seinen ersten Landesseniorenbeauftragten. Seine Aufgabe ist es, die Interessen und Bedürfnisse älterer Menschen zu vertreten: "Wir brauchen ein Umdenken und ein Anpassen an dieses Älterwerden. Der Blick für unsere Älteren muss geschärft werden."

Für Asmus ist klar: Es müssen alle Bereiche von Wohnen bis Mobilität auf diesen Wandel reagieren. Besonders wichtig ist dabei die Teilhabe älterer Menschen am gesellschaftlichen Leben, auch Barrierefreiheit spielt eine zentrale Rolle. Schon jetzt ist jede:r Vierte in Brandenburg 65 Jahre oder älter, 2030 wird es jede dritte Person sein. Es ist an uns, Verantwortung für unsere Zukunft zu übernehmen, indem wir heute die notwendigen Schritte zur Altersvorsorge gehen. Zeitgleich müssen wir unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, sodass jede und jedem ein glückliches Leben im Alter möglich ist.

Interviews & Text: Ella Arens, Bilder: Quirin Leppert, Ella Arens, Maximilian Gödecke

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