Erinnerungskultur in Berlin – Wie können wir uns proaktiv an den Nationalsozialismus erinnern?

Wer durch Berlin läuft, wird unzähligen Denkmälern, Ausstellungen und Gedenktafeln begegnen, die an den Nationalsozialismus erinnern und die vielfältigen Spuren einer dunklen Geschichte im Stadtbild sichtbar machen. Trotzdem sind die Zahlen rassistisch oder antisemitisch motivierter Gewalttaten seit 1945 nie so hoch gewesen. ALEX-Autorin Paula Hitzemann ist daher der Frage nachgegangen, wie sich Berliner:innen aktuell an den Nationalsozialismus erinnern und welche Potentiale das digitale Zeitalter für die Erinnerungskultur birgt.

Der Schock sitzt bei vielen Berliner:innen tief: Im nur etwa 180 km entfernten Thüringen und damit unweit der Berliner Stadtgrenze gewann mit der AfD erstmals in der deutschen Nachkriegsgeschichte eine als rechtsextrem eingestufte Partei eine Landtagswahl. Im noch weniger weit entfernten Sachsen wurde die AFD mit 30,6% zur zweitstärksten Partei im Landtag gewählt. Die Zahlen rassistisch oder antisemitisch motivierter Gewalttaten seit 1945 nie so hoch gewesen. Kann von diesen Zahlen auf eine ausbaufähige oder gar gescheiterte Erinnerungskultur geschlossen werden?

"Mit dem Vergessen steigt auch die Gefahr, dass sich die Geschichte wiederholt"

Die Memostudien der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) zeigen, dass sowohl unter Jugendlichen als auch Erwachsenen erhebliche Wissenslücken in Bezug auf Begrifflichkeiten, Orte, Fakten und vor allem Opfergruppen der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands existieren. Gleichzeitig stehen Akteur:innen der Erinnerungskultur vor einer besonderen Herausforderung: Das Ende eines Jahrhunderts, in dem Zeitzeug:innen selbst die Erinnerung mitgestalten können, rückt näher.

Als Hauptstadt des „Deutschen Reiches“ wurde Berlin besonders durch den Nationalsozialismus geprägt. Bis heute, fast 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, erinnern bestehende Zeugnisse wie das Flughafengebäude Tempelhof, das Olympiastadion oder das Haus der Wannsee-Konferenz an das Dritte Reich. Nachträglich erbaute Gedenkstätten, Dokumentationszentren, Ausstellungen und Mahnmälern erinnern zusätzlich gegenwärtig an die Verbrechen der Nationalsozialist:innen und ihre Opfer. Durch das Einbauen in den Alltag von Berliner:innen soll Antisemitismus, Vertreibung, nationalistischem Denken oder gar Völkermord auch gegenwärtig entgegengewirkt werden.

In der Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit und der Förderung eines Geschichtsbewusstseins geht es vor allem darum, die Gesellschaft der Gegenwart für Werte wie Toleranz, Menschlichkeit und demokratisches Denken zu sensibilisieren und eine Brücke zur Zukunft zu schlagen, um solche Verbrechen künftig zu verhindern. Denn der Nationalsozialismus ist Vergangenheit - Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus sind jedoch allgegenwärtig und aktueller denn je. Dr. Sonja Begalke ist Historikerin und Fachreferentin der Stiftung EVZ – Erinnerung, Verantwortung, Zukunft. Sie betont: „Mit dem Vergessen steigt auch die Gefahr, dass sich die Geschichte wiederholt. Und deshalb müssen wir als Gesellschaft die Demokratie verteidigen.“

Berlin im Nationalsozialismus

Als Nationalsozialismus wird grob die politische Bewegung, welche zwischen dem Ende des Ersten Weltkrieges im Jahr 1918 und dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Jahr 1945 stattfand, bezeichnet. Diese politische Bewegung unter Adolf Hitler errichtete im Jahr 1933 die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) und begann 1939 den Zweiten Weltkrieg. Die Nationalsozialist:innen verfolgten undemokratische, nationalistische, antisemitische und ableistische Ziele. Sie bezeichneten andere Völker öffentlich als minderwertig und vertraten menschenverachtende Werte.

Während ihrer Regierungszeit verübten die Nationalsozialist:innen und ihre Kollaborateur:innen zahlreiche Kriegsverbrechen und Massenmorde, darunter die als Holocaust bezeichnete systematische Tötung von weit über sechs Millionen europäischen Jüd:innen. Auch Politisch Andersdenkenden, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle und Menschen, die eine andere Herkunft als die deutsche, eine andere Religion als die christliche und eine nicht-nationalsozialistische Meinung hatten, wurden verfolgt, eingesperrt oder ermordet. In Folge des Zweiten Weltkrieges verloren insgesamt über 70 Millionen Menschen ihr Leben. Der am 8. Mai 1945 beendete Zweite Weltkrieg hat ein zertrümmertes Berlin hinterlassen: von vorher 4,3 Millionen Berliner:innen lebten nur noch 2,8 Millionen in der Stadt und etwa 600.000 Wohnungen waren zerstört.

Obwohl etliche Gedenkstätten und historisch relevante Orte wie das Konzentrationslager in Sachsenhausen im Nordwesten Berlins kontinuierlich an das größte Verbrechen der deutschen Geschichte erinnern, sind viele Berliner:innen der Meinung, dass bis heute große Lücken in der deutschen Erinnerungskultur existieren. Erst im Jahr 2020 hat der Deutsche Bundestag beispielsweise bestimmte Opfergruppen, die bis dahin kaum berücksichtigt wurden, offiziell als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Dazu gehörten vor allem sogenannte „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“. Die Kategorisierung als „asozial“ betraf unter anderem Obdachlose, Alkoholiker, Prostituierte und andere, die nicht in das nationalsozialistische Bild der „Volksgemeinschaft“ passten.

Doch welche Möglichkeiten gibt es, um die deutsche Vergangenheit allgegenwärtig im öffentlichen Bewusstsein zu erhalten und eine Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu schlagen? Was können Berliner:innen proaktiv tun, um das Erinnern an das historische Geschehen im Allgemeinen und speziell an den Nationalsozialismus zu fördern und sich aktiv dafür einzusetzen?

Zeitzeug:innen Gehör schenken

Um die Vergangenheit authentisch rekonstruieren zu können, muss auf das Wissen von Zeitzeug:innen zurückgegriffen werden. Anhand ihrer individuellen Erinnerungen zeigt sich die Vielfalt an Erfahrungen und es ist möglich, eine internationale und interdisziplinäre Perspektive auf die nationalsozialistische Zeit als Teil der deutschen Geschichte zu eröffnen. Dr. Sonja Begalke betont eindringlich die Wichtigkeit von Zeitzeug:innenberichten: „Die Schicksale vieler Menschen sind für immer verloren, wenn wir es nicht schaffen, diese Erinnerungen zu erfahren und mit unserer Hilfe zu bewahren.“

Die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, welche sich seit dem Jahr 2000 für den Erhalt der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus in Berlin einsetzt, hat neben Denkmälern und Ausstellungen auch ein Videoarchiv. Die Videoreihe „Sprechen trotz Allem“ gibt Zeitzeug:innen eine Stimme. Zwischen 2007 und 2014 führte die Stiftung über 70 Interviews durch, in welchen Überlebende über ihr Schicksal, ihren Lebensweg, ihre Familien und Freunde, Ängste und Hoffnungen während der nationalsozialistischen Verfolgung sprechen und sich damit einer schwierigen, aber umso wichtigeren Hürde stellen: dem Sprechen über die dunkle Vergangenheit.

Das Jüdische Museum Berlin bietet ebenfalls eine Veranstaltungsreihe an, in welcher Zeitzeug:innen in kurzen Videos über ihr Schicksal während der Zeit des Nationalsozialismus berichten.

Auch der Bestand der Seite www.zeitzeugen-portal.de lädt Interessierte dazu ein, sich in einer Video-Sammlung von Zeitzeug:inneninterviews über individuelle Erfahrungen zu informieren und authentische Informationen über die nationalsozialistische Vergangenheit zu bekommen.

Beiträge wie diese richten sich an jede Altersgruppe: Sie sollen authentische Vermittlungsarbeit leisten und für ein gegenwärtiges historisches Interesse sensibilisieren.

Interaktives Erinnern: Erinnerungskulturelle Projekte

Wer sich auf interaktive Weise über die deutsche Vergangenheit informieren möchte, hat in Berlin bereits einige Möglichkeiten. Eine Vielzahl von Trägern, Vereinen und Stiftungen hat es sich zur Aufgabe gemacht, den erinnerungskulturellen Dialog zu fördern und bietet verschiedene Bildungsformate, Workshops, Führungen und Ausstellungen für Jung und Alt an. Vor allem Zeitzeug:innen haben aktiv dazu beigetragen, dass es diese lebendigen Orte des Erinnerns in der Stadtgesellschaft gibt.

So bietet die digitale Lernwelt der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) beispielsweise interaktive Bildungsformate an, die das Jugendengagement und einen generationsübergreifenden Dialogen fördern, um die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialist:innen lebendig zu halten. Der Auftrag der Stiftung ist das Fördern der Erinnerungskultur durch eine kritische Auseinandersetzung, das Unterstützen von Opfern des NS-Regimes und das Einsetzen für Menschenrechte und Völkerverständigung.

Im Jahr 1990 wurde die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz errichtet. In Ausstellungen, Workshops, Führungen und Seminaren kann sich hier an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert und über nationalsozialistische Verbrechen, die Verteidigung der Demokratie und Förderung der Menschenrechte informiert werden.

Das Anne Frank Zentrum ist ein gemeinnütziger Verein und erinnert mit Ausstellungen und Bildungsangeboten an das jüdische Mädchen und ihre Geschichte. Hier werden Lernorte geschaffen, in denen sich Kinder und Jugendliche mit Geschichte auseinandersetzen. So können sie lernen, mit einem Bewusstsein für die Vergangenheit in der heutigen Lebenswelt gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. In einer dauerhaften Ausstellung in Berlin und Wanderausstellungen in ganz Deutschland entwickelt der Verein Projekte und Materialien zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und Holocaust und dem Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung heute.

Das Erinnern der Vergangenheit ist ein Erinnern für die Zukunft

Das Erinnern ist eine moralische Verpflichtung und elementar für das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft. „Neben dem gemeinschaftlichen Erinnern meint Erinnerungskultur aber vor allem auch unsere Formen und Formate, wie wir gedenken“, erklärt Frau Begalke. Insbesondere für die jüngeren Generationen müssen kontinuierlich innovativere Wege gefunden werden, um Erinnerungskultur zugänglich zu gestalten. „Wir müssen uns dem digitalen Zeitalter anpassen und die modernen Medien als Potentiale sehen“, betont Dr. Sonja Begalke. „Erinnern geht in vielen Formen: Ob es nun bei einer Demonstration, an einem Gedenktag wie dem des Holocausts am 27. Januar oder bei einem schulinternen Theaterprojekt passiert.“

Viele Berliner Gedenkstätten bedienen sich bereits den Tools der Digitalisierung und können daher als Inspiration für eine zeitgemäße Erinnerungskultur dienen. Es liegt an der Gesellschaft, diese Formen zu nutzen und so die Zukunft zu gestalten. Denn das Erinnern der Vergangenheit ist ein Erinnern für die Zukunft.

Text, Bilder & Interview: Paula Hitzemann

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